Leben wir unser Leben oder werden wir vom Leben gelebt? Agieren wir oder reagieren wir nur?

 

Sitzt einer in seinem Wohnzimmer vor seinem Aquarium und zieht mit seinem Zeigefinger langsam Kreise und andere Figuren an der Scheibe. Die Fische, die denken, es gäbe Futter, folgen immerzu im buntem Schwarm seinem Finger. Kommt die Ehegattin rein: „Was machst du denn da?“ „Ich liebe es, wenn die höhere Kreatur der niederen Kreatur ihren Willen aufzwingt!“, antwortet der Mann. „Aha,“ meint die Frau, und dann fragt sie noch: „Du, soll ich dir einen Tee mitkochen?“ „O, gern“, freut er sich. Einige Minuten später kommt die Gemahlin mit dem Tee wieder ins Zimmer – und was sieht sie? Ihr Mann sitzt immer noch vor dem Aquarium, starrt hinein, wie hypnotisiert, zieht aber mit seinem Finger keine Kreise mehr an der Glasscheibe, sondern sein Mund geht nur noch auf – zu – auf – zu – auf – zu....

 

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass afrikanische Buschmänner Affen mit einem besonderen Trick ihren Willen aufzwingen können. Sie fangen Affen, um entweder an einen saftigen Affenbraten oder wasserarmer Gegend an Trinkwasser heranzukommen. Wie das geht? In der Nähe einer Affengruppe und gut sichtbar für diese kettet der Buschmann einen Blechkanister oder ähnliches an einen Baum. Der Kanister hat ein ziemlich kleines Loch, gerade groß genug, dass ein Affe mit Mühe seine Hand hindurch bekommt. Die neugiereigen Affen beobachten das Geschehen. Und nun nimmt der Mensch, gut sichtbar, und mit dem Wind auch sehr gut riechbar für die Affen, eine Handvoll herrlich duftender Nüsse, die die Affen geradezu lieben. Er füllt sie vor den Augen der entfernt zuschauenden Affen in das Loch im Kanister und dann geht er – scheinbar auf nimmer Wiedersehen – davon. In Wahrheit aber umkreist er die Affen und versteckt sich gegen den Wind. Die Affen riechen und sehen ihn nicht mehr. Es dauert dann nicht lange und die Neugier und Gier überwältigt den mutigsten der Affen. Er nähert sich dem Kanister, spielt und riecht daran – und greift dann mit der so schlank wie möglich gemachten Hand hinein. Er ertastet und packt die Nüsse – aber: genau in diesem Moment stürzt mit lautem Schreien und Zusammenschlagen von Ästen usw. der Mensch aus seinem Versteck. Alle Affen fliehen in Panik. Aber – eines tun Affen nie: Was sie haben, das haben sie und das lassen sie nie los! Und so versucht der Nüssedieb zwar auch panisch zu entkommen – aber weil seine Hand um die Nüsse zur Faust geschlossen bleibt, hängt er am Kanister fest. Wenn der Mensch nun nur Wasser sucht, hat der Affe Glück. Denn dann sperrt der Mensch den Affen in einen Käfig und – gibt ihm Salz zu fressen. Der Affe liebt auch Salz und frisst. Doch bald wird er davon natürlich irre durstig. Salz entzieht dem Körper das Wasser. Nun lässt der Mensch den Affen frei und der rennt schnurstracks zu der ihm bekannten, verborgenen Wasserquelle. Der Mensch folgt ihm und findet das Wasser. Der Affe hat seine Freiheit wieder. Sollte der Buschmann aber auf Affenbraten aus gewesen sein, dann  erschlägt er den mit der geballten Faust festhängenden Affen sogleich...

 

Dem Menschen fällt es ebenfalls sehr schwer, Liebgewonnenes loszulassen. Die einen bleiben im Alter zu lange in einer Wohnung, die sie verlassen müssen, wenn die Alterserkranklungen sie dazu zwingen, anstatt rechtzeitig und bei guten Kräften freiwillig nach einer geeigneten Bleibe z. B. im Parterre statt im 3. Stock zu suchen. Sie werden gelebt, anstatt zu leben. Krankheit zwingt ihnen ihren Willen auf, weil sie nicht loslassen wollen, was sie loslassen müssen. Andere hängen an anderem fest. sogar ganze Kirchengemeinden, hat ein Witzbold mal gesagt, sterben mit den letzten Worten auf den Lippen: „Das haben wir doch schon immer so gemacht.“ Ich habe bereits etliche Menschen kennen gelernt, die in der Trauer um vergangenen Zeiten oder insbesondere um einen Verstorbenen mit Kopf und Herz und Wohnungseinrichtung so fest hängen, dass sie nichts anderes mehr denken, reden, wollen als zurück in die Vergangenheit. Manche gehen so weit, dass sie Spiritisten aufsuchen, um mit ihren Toten zu kommunizieren. In 1.Sam 28,3-25 lesen wir, wie der israelitische König Saul, gegen Gottes Gebot (5.Mose 18,10-11!), vor lauter Sehnsucht nach seinem verstorbenen Ratgeber Samuel, diesen von einer Totenbeschwörerin heraufbeschwören lässt. Aber das bringt ihm kein Glück! Es geschieht zu seinem eigenen Schaden, dass er die Totenruhe stört. Wie dem auch sei – Wer nicht loslässt, was die Zeit ihm nehmen wird, der wird mit dem untergehen, worum sich seine Faust ballt und verkrallt. Der ist nicht frei und offen für Neues. Der glaubt nicht, dass Gott allein die Vergangenheit und Zukunft in Händen hat und dass wir Menschen die Gegenwart als Geschenk und Aufgabe in seinem Namen gestalten und darum mit Liebe, Glauben und Hoffnung für die real existierenden Mitmenschen und Tiere gestalten sollen. „Predigt die gute Botschaft aller Kreatur“, gebietet Jesus allen Getauften und „predigen“ meint bei ihm immer: In gebeten und Taten und Worten Glauben oder Hoffnung oder Liebe teilen, fördern, vermehren in der Welt. Ich kenne nur eine Minderheit von beispielsweise Senioren, die – wenn ihre Kinder oder sogar ihr Partner aus dem Haus sind – die Kinder und Erwachsener ihrer Kirchengemeinde als Familie Gottes mit ihren Begabungen bereichern und mit ihrer Teilnahme, mit Gebet, Tat und Wort in Glaube, Hoffnung und liebe fördern. Die Mehrheit sehnt sich nach Vergangenem zurück, fühlt sich von Trauerfeier zu Trauerfeier nur einsamer und wartet – aber auf was? Wer rechtzeitig loslässt, was er nicht festhalten kann und offen dafür ist, dass jeder Tag ein Geschenk und eine Aufgabe Gottes ist, der stellt fest, was Jesus selbst erlebte: Er ließ in Gezehmane sein Leben los, trauerte nicht den guten Zeiten mit den Jüngern auf Erden nach und – erlebte, dass das größere Leben erst noch kam, mit den ersten Strahlen der Ostersonne. „Das Beste kommt noch oder kommt zuletzt“, ist ein gut begründetes (vgl. Mt 25!) Lebensmotto. Wenn wir uns heute erstens darum bemühen, dass Gott und seine Gerechtigkeit in unserem Leben und um uns zu ihrem Recht kommen, kümmert sich Gott um unser Morgen. Und Jesus verspricht: „Wer mir nachfolgen will, der darf nicht mehr sich selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern muss sein Kreuz auf sich nehmen und mir nachfolgen. Wer sich an sein Leben klammert, der wird es verlieren. Wer aber sein Leben für mich und für Gottes rettende Botschaft einsetzt, der wird es für immer gewinnen. Denn was gewinnt ein Mensch, wenn ihm die ganze Welt zufällt, er selbst aber dabei Schaden nimmt? Er kann sein Leben ja nicht wieder zurückkaufen!“ (Mk 8,34-37). Und Paulus, alt und schwer krank, schreibt im 2.Kor 4: „Was wir jetzt leiden müssen, dauert nicht lange und ist leicht zu ertragen in Anbetracht der unendlichen, unvorstellbaren Herrlichkeit, die uns erwartet. Deshalb lassen wir uns von dem, was uns zurzeit so sichtbar bedrängt, nicht ablenken, sondern wir richten unseren Blick auf Gottes neue Welt, auch wenn sie noch unsichtbar ist. Denn das Sichtbare vergeht, doch das Unsichtbare bleibt ewig.“ (2.Kor 4,17-18) Und dies ist bei ihm keine Jenseitsvertröstung! In Kap. 11 desselben Briefes beschreibt er, welchen täglichen Einsatz er damals für seine Gemeinden leistete, ein Einsatz, der uns Europäern schließlich die frohe Botschaft von Jesus brachte. Christen leben zutiefst sinnvoll mit beiden Beinen auf dem Boden und miteinander für die Welt und freuen sich schon auf Gottes kommende Welt (Röm 12-13).

 

 

Bete mit mir mit:

 

„Vater, Kopf, Herz und Leben lege ich in deine Hand, offen für das, was du mit mir vor hast. Dein Wille ist immer gut, ja, am besten für mich und für alle, die um mich sind. Ich habe keinen Überblick, aber DU. Und wenn es nicht so kommt, wie ich es mir erhoffe, dann kommt es deshalb besser. Ich bete, mal vertrauensvoll, mal zögernd: Vater, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie in deinem Himmel, so auch in meinem Leben!“ Amen.

 

Also: Lassen wir uns vom Leben leben, oder leben wir unser Leben? Zwingt uns einer höhere Macht ihren Willen auf, z. B. die verrinnende Zeit und vergehende Lebenskraft? Oder sind wir durch unser Gottvertrauen frei und offen für das jeweils Neue in der Gegenwart, rechtzeitig zum Leben bereit? (s. meine Gedichte "Krisenzeiten" und "Zeit der Liebe" unter der Überschrift "Gedichte" auf dieser Homepage :-)