Texte zum Nachdenken:

 

Worte von Dr. H. Solomon, geschrieben nach dem schrecklich plötzlichen Tod der Menschen, die am 11. Sep. 2001 im World Trade-Center gewaltsam um’s leben kamen, und allesamt – wie auch ihre Lieben – irrtümlich dachten, sie hätten noch viel Zeit miteinander:

 

Wenn ich wüsste...

 

....... dass es das letzte Mal ist, dass ich Dich einschlafen sehe,
würde ich Dich besser zudecken und zu Gott beten, er möge Deine Seele schützen.

Wenn ich wüsste, dass es das letzte Mal ist, dass ich Dich zur Türe rausgehen sehe,
würde ich Dich umarmen und küssen und Dich für einen weiteren Kuss zurückrufen.

Wenn ich wüsste, dass es das letzte Mal ist, dass ich Deine Stimme höre
ich würde jede Geste und jedes Wort auf Video aufzeichnen,
damit ich sie Tag für Tag wiedersehen könnte.

Wenn ich wüsste, dass es das letzte Mal ist,
dass ich einen Moment innehalten kann, um zu sagen "Ich liebe Dich"
anstatt davon auszugehen, dass Du weißt, dass ich Dich liebe.

Es gibt sicherlich immer ein "morgen" um ein "Versehen/Irrtum" zu begehen.
Und wir erhalten immer eine 2. Chance um einfach alles in Ordnung zu bringen.

Es wird immer einen anderen Tag geben, um zu sagen "ich liebe Dich".
Und es gibt sicher eine weitere Chance um zu sagen: "Kann ich etwas für Dich tun?"

Aber nur für den Fall, dass ich falsch liegen sollte
und es bleibt nur der heutige Tag, möchte ich Dir sagen, wie sehr ich Dich mag.
Und ich hoffe, dass wir nie vergessen,
das "Morgen" ist niemandem versprochen, weder jung noch alt.

Und heute könnte die letzte Chance sein
die Du hast, um Deine Lieben fest zu halten.

Also, wenn Du auf Morgen wartest wieso tust Du's nicht heute?
Falls das "Morgen" niemals kommt wirst Du bestimmt bereuen
dass Du Dir keine Zeit genommen hast,
für ein Lächeln, eine Umarmung oder einen Kuss
und Du zu beschäftigt warst, um jemanden etwas zuzugestehen, was
sich im Nachhinein als sein letzter Wunsch herausstellt.

Halte Deine Lieben heute ganz fest und flüstere ihnen ins Ohr
sag' ihnen, wie sehr Du sie liebst, und dass Du Sie immer lieben wirst.

Nimm Dir die Zeit zu sagen "Es tut mir leid"
"Bitte verzeih' mir", "Danke", oder "Ist in Ordnung" -
und wenn es kein "Morgen" gibt, musst Du den heutigen Tag nicht bereuen.

 

Gebet nach Psalm 90,12:

 

Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden und unsere Zeit nicht vergeuden, sondern sie Tag für Tag füllen mit Glaube, Hoffnung und Liebe zu dir und den Menschen, die du uns anvertraust!

 

„Das Paradoxon unserer Zeit“ Oder:

Wir wissen es... – warum ändern wir nichts?

 

Der Schauspieler und Comicer Georg Carlin schreibt:

 

Das Paradox unserer Zeit...

 

ist: wir haben hohe Gebäude, aber eine niedrige Toleranz, breite Autobahnen, aber enge Ansichten. Wir verbrauchen mehr, aber haben weniger, machen mehr Einkäufe, aber haben weniger Freude. Wir haben größere Häuser, aber kleinere Familien, mehr Bequemlichkeit, aber weniger Zeit, mehr Ausbildung, aber weniger Vernunft, mehr Kenntnisse, aber weniger Hausverstand, mehr Experten, aber auch mehr Probleme, mehr Medizin, aber weniger Gesundheit.

Wir rauchen zu stark, wir trinken zu viel, wir geben verantwortungslos viel aus; wir lachen zu wenig, fahren zu schnell, regen uns zu schnell auf, gehen zu spät schlafen, stehen zu müde auf; wir lesen zu wenig, sehen zu viel fern, beten zu selten.

Wir haben unseren Besitz vervielfacht, aber unsere Werte reduziert. Wir sprechen zu viel, wir lieben zu selten und wir hassen zu oft.

Wir wissen, wie man seinen Lebensunterhalt verdient, aber nicht mehr, wie man lebt.

Wir haben dem Leben mehr Jahre hinzugefügt, aber nicht den Jahren mehr Leben. Wir kommen zum Mond, aber nicht mehr an die Tür des Nachbarn. Wir haben den Weltraum erobert, aber nicht den Raum in uns. Wir machen größere Dinge, aber nicht bessere.

Wir haben die Luft gereinigt, aber die Seelen verschmutzt. Wir können Atome spalten, aber nicht unsere Vorurteile.

Wir schreiben mehr, aber wissen weniger, wir planen mehr, aber erreichen weniger. Wir haben gelernt schnell zu sein, aber wir können nicht warten. Wir machen neue Computer, die mehr Informationen speichern und eine Unmenge Kopien produzieren, aber wir verkehren weniger miteinander.

Es ist die Zeit des schnellen Essens und der schlechten Verdauung, der großen Männer und der kleinkarierten Seelen, der leichten Profite und der schwierigen Beziehungen.

Es ist die Zeit des größeren Familieneinkommens und der Scheidungen, der schöneren Häuser und des zerstörten Zuhauses.

Es ist die Zeit der schnellen Reisen, der Wegwerfwindeln und der Wegwerfmoral, der Beziehungen für eine Nacht und des Übergewichts.

Es ist die Zeit der Pillen, die alles können: sie erregen uns, sie beruhigen uns, sie töten uns.

Es ist die Zeit, in der es wichtiger ist, etwas im Schaufenster zu haben statt im Laden, wo moderne Technik einen Text wie diesen in Windeseile in die ganze Welt tragen kann, und wo sie die Wahl haben: das Leben ändern - oder den Text löschen.

Vergesst nicht, mehr Zeit denen zu schenken, die Ihr liebt, weil sie nicht immer mit Euch sein werden. Sagt ein gutes Wort denen, die Euch jetzt voll Begeisterung von unten her anschauen, weil diese kleinen Geschöpfe bald erwachsen werden und nicht mehr bei Euch sein werden. Schenkt dem Menschen neben Euch eine heiße Umarmung, denn sie ist der einzige Schatz, der von Eurem Herzen kommt und Euch nichts kostet. Sagt dem geliebten Menschen: „Ich liebe Dich" und meint es auch so. Ein Kuss und eine Umarmung, die von Herzen kommen, können alles Böse wiedergutmachen. Geht Hand in Hand und schätzt die Augenblicke, wo Ihr zusammen seid, denn eines Tages wird dieser Mensch nicht mehr neben Euch sein.

Findet Zeit Euch zu lieben, findet Zeit miteinander zu sprechen, findet Zeit, alles was Ihr zu sagen habt miteinander zu teilen, - denn das Leben wird nicht gemessen an der Anzahl der Atemzüge, sondern an der Anzahl der Augenblicke, die uns des Atems berauben.
 

 

Diesen Text schrieb George Carlin anlässlich des Todes seiner Frau.

 

 

Den nachfolgenden Text schickte mir jemand per E-Mail, ein weitererText zum Nachdenken über das, was wirklich zählt. Ich habe ihn ein ganz bisschen am Ende abgewandelt – hier ist er:

 

Das „magische Konto“

 

Stell dir vor, du hättest bei einem Wettbewerb folgenden Preis gewonnen:

 

Jeden Morgen stellt dir deine Bank 86.400,00 € auf dein privates Konto zur Verfügung.

Doch: dieser Preis hätte seine Regeln, wie jedes Spiel:

 

Alles, was du im Laufe des Tages nicht ausgegeben hast, wird dir wieder weggenommen. Du kannst das Geld auch nicht einfach auf ein anderes Konto überweisen. Du kannst es immer nur heute ausgeben. Aber – jeden Morgen, wenn du erwachst, eröffnet dir die Bank ein neues Konto mit neuen 86.400,00 € für den Tag.

Die Bank kann das Spiel ohne Vorwarnung beenden. Zu jeder Zeit kann sie sagen: „Es ist vorbei! Das Spiel ist aus!“ Sie kann das Konto schließen und du bekommst kein Neues mehr.

 

Was würdest du persönlich tun?

 

Du würdest dir alles kaufen, was du möchtest? Nicht nur für dich selbst, sondern auch für die Menschen, die du liebst? Richtig?

Vielleicht sogar für Menschen, die du nicht kennst? du kannst das ja gar nicht alles nur für dich ausgeben. Richtig?

Du würdest versuchen, jeden Cent auszugeben und ihn zu nutzen – richtig?

 

Eigentlich ist das Spiel die Realität!

 

Jeder von uns hat so eine „magische Bank“! Wir sehen sie nur nicht. Es ist die Zeit. Jeden Morgen bekommen wir 86.400 Sekunden Leben für den Tag geschenkt.

Und wenn wir am Abend einschlafen, wird uns die Zeit nicht gutgeschrieben. Was wir an diesem Tag nicht gelebt haben, ist für immer verloren. Gestern ist vergangen. Jeden Morgen beginnt sich das Konto neu zu füllen, aber die Bank kann es jederzeit auflösen... ohne Vorwarnung! Was machst du also mit deinen täglich 86.400 Sekunden? Sind sie nicht viel mehr wert als die gleiche Menge in Euro?

 

Denke darüber nach und denke immer daran:

 

Genieße zwar die Sekunden deines Lebens, denn die Zeit rennt dir viel schneller davon als du denkst! Aber – vergiss nicht, dass du das Leben nicht nur für dich geschenkt bekommen hast, sondern dass du dazu begabt und mit der Konfirmation auch dazu beauftragt wurdest, in Gottes Mannschaft auf dem Rasen des Lebens Tore des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gegen Zweifel, gegen Mutlosigkeit und gegen Lieblosigkeit in der Welt zu schießen. Das Leben ist eine Bewährungsprobe, Leihgabe und Aufgabe Gottes. Vergiss es nie, dass du lebst, war keine eigene Idee – sondern der „Bankdirektor“ Gott gibt dir dein Leben Sekunde für Sekunde in der großen Hoffnung, dass du dich mit einer Kirchengemeindefamilie im Team gegen Angst, Not, Einsamkeit, Streit, Umweltzerstörung, Krankheit, Trauer, Armut, Ungerechtigkeit, Hinterlist, Gleichgültigkeit usw. einsetzen lernst. Es gibt immer einen Menschen neben dir, der dich braucht und es wird auch Zeiten geben, wo du eine eingespielte Mannschaft brauchst, die dich kennt, wertschätzt und trägt.

 

 

Der König und sein Hofnarr

 

Es war einmal ein junger König, der nicht viel zu lachen hatte. Das lag nicht so sehr daran, dass die Zeiten schwer und das Regieren mühselig war. Nein, der König wurde oft von Schwermut geplagt. Niedergeschlagenheit befiel ihn nicht selten wie aus heiterem Himmel. Aber: Es gab einen Helfer! Der König hatte einen Hofnarren. Der war zwar nicht besonders helle unter seiner Narrenkappe, er war auch recht tollpatschig, aber – mit der Gabe des Humors gesegnet – verstand es dieser lustige Kerl, den König immer wieder aufzuheitern, wenn er in Trübsinn verfiel, ja, manchmal brachte er seinen geliebten Regenten sogar regelrecht zum herzhaften Lachen.

 

Eines Tages nun – der Narr hatte seinem König mal wieder tollpatschig und trottelig, aber eben gerade dabei sehr lustig anzusehen, ein kräftiges Gelächter entlocken können – da rief der König: „Mein lieber Narr! Ich kenne niemanden, der so trottelig und tollpatschig ist wie du! Weißt du was? –  hier hast du mein Zepter aus purem Gold, besetzt mit kostbarsten Edelsteinen. Reise damit durch mein ganzes Königreich und wenn du auch nur einen Menschen findest, der ein größerer Narr ist als du, dann schenke ihm mein Zepter. Findest du aber keinen, dann behalte es selbst!“

 

Sogleich machte der Narr sich auf und durchreiste das Königreich, um einen größeren Narren zu finden als er selbst es war. Doch – wo auch immer er suchte und egal, wie lange er reiste – er fand keinen.

Eines Tages – Er war schon recht lange fern vom Königsschloss – da spürten ihn die Kuriere des Königs auf: „Hofnarr, eile schnell zum König! Er ist schwer erkrankt!“ In großer Sorge reiste der Narr so schnell er konnte zurück zum König und kam gerade noch rechtzeitig, um den König bei vollem Bewusstsein, aber auf leider dem Sterbebett anzutreffen. „Mein König!“, rief der Narr schluchzend, „Steht es wirklich so schlimm um dich, wie es aussieht und wie die Ärzte mir sagen?“

„Ja, mein kleiner, lieber Narr“, flüsterte der König müde lächelnd mit schwacher Stimme. „Ich gehe jetzt fort auf die letzte, sehr lange Reise, von der ich nicht wiederkehren werde“... Mit Tränen in den Augen fragte ihn da sein Hofnarr besorgt: „Lieber König, du gehst wirklich auf deine letzte Reise? Hast du dich denn gut darauf vorbereitet?“ „Nein!“, hauchte der König, „Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich so plötzlich sterben werde...“ Da holte der Narr schluchzend das Zepter des Königs aus seiner Reisetasche und überreichte es dem Sterbenden mit den Worten: „Mein König, wenn ihr euch im Leben nicht auf’s Sterben vorbereitet habt, dann muss ich euch euer Zepter zurückgeben. Denn: Dann seid ihr der größte Narr...“

 

Der 23 Kanal

 

Im Lesen der Bibel begegnet uns Gott. Er tröstet und gibt Wegweisung für unser Leben. Als guter Hirte will er uns führen wie es in Psalm 23 beschrieben ist. Doch leider hat die Bibel sehr viele Konkurrenten, die uns abhalten wollen von den guten Wegen Gottes. Einer davon ist der Fernseher.

Der Fernsehapparat ist mein Hirte,
mir wird es an geistlichem Wachstum mangeln.
Er weidet mich auf bequemen Sesseln,
so dass ich nichts mehr für Jesus tun kann.
Er führt mich zu vielen „guten“ Sendungen,
die man gesehen habe muss,
und lässt mich dabei meinen Auftrag versäumen.

Er erquicket mit vielen weltlichen Informationen
und hält mich ab vom Bibellesen.
Er führtet mich auf die Straße des Stumpfsinns
und des geistlichen Nichtstuns.
Und ob ich schon hundert Jahre alt würde,
so könnte mich doch nichts von meinem Fernseher abbringen.
Denn er ist bei mir.

Sein Bild und sein Ton trösten mich.
Er bereitet vor mir viel Unterhaltung
und hält mich ab von meinen Familienpflichten.
Er erfüllt mein Haupt mit viel Ideen,
die nichts mit dem Wort Gottes zu tun haben.

Wahrlich, weder Gutes noch Barmherzigkeit
werden mir folgen mein Leben lang,
denn der Fernseher lässt mir keine Zeit übrig,
um Gottes Willen zu tun.
Und ich werde bleiben im Hause der A:R:D:
und der vielen anderen Sender immerdar.
(Gedicht von Arno Backhaus)

 

Die Kinder des großen Königs

 

(Max Lucado)

 

Vor langer, langer Zeit gab es ein Dorf, wie es viele gibt. Fünf Waisenkinder lebten dort ohne Vater und Mutter recht und schlecht zusammen. Eines Tages hörte ein König von ihrem Unglück und beschloss, sie an Kindes statt anzunehmen. Er wollte sie Abholen und ihr Vater sein.

 

Alle Leute im Lande fanden es reichlich sonderbar, dass der König diese Kinder adoptierte. Hatte er doch wahrlich schon genug Leute, um die er sich kümmern musste!

„Warum will der König sie haben?“, fragten sich die Leute. Aber der König hatte seine Gründe.

 

Als die Kinder erfuhren, dass sie einen neuen Vater hatten und dass ihr Vater kein geringerer als der König war, waren sie außer sich vor Aufregung.

 

Auch die Leute gerieten in große Aufregung, als sie erfuhren, dass die Waisenkinder in ihrem Dorf einen Vater hatten und dass dieser Vater der König war. Eines Tages würde er kommen, um seine Kinder abzuholen. Die Leute machten den Kindern klar, was jetzt zu tun sein:

„Ihr müsst den König beeindrucken“, erklärten sie. „Nur diejenigen mit großen Gaben dürfen im Schloss leben.“

Doch die Menschen kannten den König nicht. Sie dachten einfach, dass alle Könige beeindruckt werden wollten.

 

Die Kinder begannen nun, ihre Gaben einzusetzen und schwer zu arbeiten:

 

Ein Junge, der sich aufs Schnitzen verstand, beschloss, dem König eine wundervolle Holzschnitzarbeit zu schenken. Er schnitt mit seinem Messer in das weiche Holz eines Ulmenstammes. Da wurden die kleinen Holzklötze lebendig.

 

Seine Schwester wollte den König mit einem Gemälde beschenken, das die Schönheit des Himmels abbilden sollte –

ein Bild, das es wert wäre, in seinem Schloss ausgestellt zu werden.

 

Eine andere Schwester wollte den König mit ihrer Musik erfreuen. Sie sang stundenlang und übte auf ihrer Mandoline. Die Dorfbewohner blieben an ihren Fenstern stehen und lauschten, wenn ihre liebliche Musik erklang.

 

Ein weiteres Kind nahm sich vor, den König mit seinem Wissen zum Staunen zu bringen. Noch zu später Stunde brannte seine Kerze neben den aufgeschlagenen Büchern über Geographie, Mathematik, Chemie. Er hatte einen großen Wissensdurst und lernte mit großem Eifer. Ein weiser Mann wie der König würde seine harte Arbeit sicher zu schätzen wissen.

 

Dann war da noch ein kleines Mädchen, das nichts zu bieten hatte: Seine Hände waren ungeschickt, seine Finger zu ungelenk für einen Pinsel; es probierte es mit Singen, aber heraus kamen nur schräge Töne. Mit dem Lesen hatte es auch so seine Schwierigkeiten. Es hatte kein Talent. Es war zu nichts begabt.

Das einzige, was es bieten konnte, war sein Herz. Und das war gut. Die Kleine verbrachte ihre Zeit damit, an den Stadttoren die Leute beim Kommen und Gehen zu beobachten.

Sie verdiente sich ein paar Groschen, indem sie sich um die Pferde kümmerte oder das Vieh fütterte. Sie war ein zuverlässiges Kind, das vielen gab, was es selbst nicht hatte: Das Gefühl, zu Hause zu sein. Sie hatte eben ein gutes Herz. Jeden Bettler kannte sie mit Namen. Sie streichelte jeden Hund. Die Heimkehrenden hieß sie willkommen und begrüßte die Fremden.

 

„Wie war deine Reise?“,

 

erkundigte sie sich.

 

„Sag mal, was hast du bei deinem Besuch erlebt?“

„Wie geht es deinem Mann?“

„Gefällt dir deine neue Arbeit?“

 

Sie hatte so viele Fragen an die Leute, weil ihr herz groß war und sie sich gerne um die Leute kümmerte.

 

Es bedrückte sie, das sie keine besonderen Gaben und kein Geschenk für den König hatte. Bestimmt würde er sich über sie ärgern. Die Dorfbewohner hatten ihr doch gesagt, dass der König unbedingt ein Geschnek erwarte und dass sie sich etwas überlegen solle. Also nahm sie ein Messer zur Hand und wandte sich an ihren Bruder, den Holzschnitzer:

 

„Könntest du mir zeigen, wie man schnitzt?“,

 

fragte sie.

 

„Tut mir leid“,

 

antortete der junge Handwerker, ohne aufzusehen,

 

„ich habe viel zu tun. Ich habe keine Zeit für dich. Du weißt doch, der König kommt!“

 

Das Mädchen legte das Messer beiseite und griff zum Pinsel. Es machte sich auf den Weg zu seiner Schwester, der Künstlerin. Die malte gerade einen Sonnenuntergang auf die Leinwand.

 

„Du kannst aber schön malen“,

 

sagte das Mädchen.

 

„Ich weiß“,

 

sagte die Malerin.

 

„Könntest du mir zeigen, wie man malt?“

 

„Nicht jetzt“,

 

antwortete die Schwester, den Blick auf ihre Palette gerichtet,

 

„du weißt doch, der König kommt.“

 

Das Mädchen dachte an seine andere Schwester, die Sängerin.

 

„Sie wird mir bestimmt helfen“,

 

sagte es sich. Als es jedoch das Haus seiner Schwester erreichte, standen dort schon Leute, die darauf warteten, die Schwester singen zu hören.

 

„Schwester!“,

 

rief es,

 

„Schwester, ich bin zu dir gekommen, um dir zuzuhören und von dir zu lernen.“

 

Doch seine Schwester konnte es nicht hören. Der Beifall der Leute war zu laut. Schweren Herzens drehte sich das Mädchen um und ging davon.

 

Dann dachte es an den Bruder. Es nahm ein Buch mit kleinen Wörtern und großen Buchstaben mit und machte sich auf den Weg zu ihm.

 

„Ich habe nichts, was ich dem König schenken könnte“,

 

sagte es.

 

„Könntest du mir nicht Lesen beibringen, damit ich ihm etwas bieten kann?“

 

Der Bruder schwieg. Er war in Gedanken versunken. Doch das unbegabte Kind ließ ihm keine Ruhe:

 

„Kannst du mir helfen? Ich kann doch nichts!“

 

„Geh weg“,

 

sagte der gelehrte unwillig.

 

„Siehst du denn nicht, dass ich mich auf das Kommen des Königs vorbereite?“

 

Schließlich verließ das Mädchen bekümmert seinen Bruder. Nichts hatte es erreicht.

 

Es kehrte zurück an seinen Platz an den Stadttoren und kümmerte sich wieder um die Tiere der Leute.

 

Einige Tage später kam ein Mann in Kaufmannskleidern in die kleine Stadt.

 

„Kannst du meinen Esel füttern?“,

 

fragte er das Mädchen.

Das Waisenkind sprang schnell auf seine Füße und schaute in das braungebrannte Gesicht eines Mannes, der weit gereist sein musste. Seine Haut war von der Sonne gegerbt, und seine Augen sahen fröhlich aus. Ein freundliches Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Das Mädchen fasste gleich Zutrauen zu ihm.

 

„Das kann ich“,

 

antwortete das Mädchen und brachte voller Eifer das Tier zum Trog.

 

„Wenn du zurück bist, wird er gebürstet und gefüttert sein“. „Sag mal“,

 

erkundigte es sich, als der Esel trank,

 

„willst du hier bleiben?“

 

„Nur eine Weile“.

 

„Bist du müde von der Reise?“

 

„Allerdings!“

 

„Willst du dich nicht gerne hinsetzen und ein bisschen ausruhen?“

 

Das Mädchen deutete auf eine Bank in der Nähe. Der Große Mann mit der dunklen Haut setzte sich auf die Bank, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er schlief gleich ein...

 

Einige Minuten später öffnete er die Augen wieder und bemerkte, dass das Mädchen zu seinen Füßen saß und sein Gesicht anschaute. Es war der Kleinen peinlich, dass er sie dabei ertappt hatte, und sie wandte sich ab.

 

„Sitzt du schon lange hier?“

 

„Ja“.

 

„Was suchst du?“

 

„Nichts. Du scheinst ein freundlicher Mann zu sein und ein gutes Herz zu haben. Es tut einfach gut, in deiner Nähe zu sein.“

 

Der Mann lächelte und strich sich durch den Bart.

 

„Du bist ein kluges Mädchen“,

 

sagte er,

 

„wenn ich wiederkomme, können wir weiter plaudern.“

 

Der Mann kam zurück, ziemlich bald sogar.

 

„Hast du gefunden, wen du gesucht hast?“,

 

wollte das Mädchen wissen.

 

„Ich habe sie gefunden, aber sie waren zu beschäftigt für mich“.

 

„Wie meinst du das?“

 

„Die ich besuchen wollte, hatten keine Zeit, mich zu empfangen. Einer von ihnen ist Schnitzer, der es eilig hatte, eine Arbeit fertig zu stellen. Er bat mich, morgen wieder zu kommen. Eines der Mädchen ist Künstlerin. Ich sah es auf einem Hügel sitzen, aber die Leute in seiner Nähe meinten, es wollte nicht gestört werden. Wieder eine andere ist Musikerin. Ich saß mit den anderen Leuten da und hörte auf ihre Musik. Als ich mit ihr sprechen wollte, sagte sie mir, dass sie keine Zeit hätte. Noch einer, den ich aufsuchte, war in die Stadt gezogen, um zu lernen“.

 

Die Augen des Mädchens wurden immer größer.

 

„Aber du siehst gar nicht aus wie ein König“,

 

brachte es mühsam hervor.

 

„Ich versuche, nicht so auszusehen“,

 

erklärte er,

 

„weißt du, Könige können sehr einsam sein. Die Leute verhalten sich merkwürdig in meiner Nähe. Sie bitten mich, ihnen einen gefallen zu tun. Sie versuchen mich zu beeindrucken. Sie sagen mir all ihren Kummer.“

 

„Aber bist du dafür nicht König?“,

 

fragte das Mädchen.

 

„Sicherlich“, gab der König zurück, „aber es gibt Zeiten, in denen ich einfach nur mit meinem Volk zusammen sein will, in denen ich mit meinen Leuten reden möchte und von ihnen hören, wie ihr Tag war. Ich möchte ein wenig mit ihnen lachen, ein wenig weinen. Es gibt Zeiten, in denen ich nichts anderes will, als ihr Vater sein.“

 

„Hast du deshalb die Kinder adoptiert?“

 

„Genau! Kinder unterhalten sich gerne. Erwachsene meinen, sie müssten mir imponieren, Kinder nicht. Sie möchten einfach mit mir reden.“

 

„Aber meine Schwestern und Brüder waren zu beschäftigt?“

 

„Ja, wirklich. Aber ich werde wiederkommen. Vielleicht haben sie dann mehr Zeit für mich...

 

 Möchtest du auf meinem Esel zum Schloss reiten?“, fragte der König. Und – so geschah es, dass die begabten Kinder den Besuch des Königs verpassten, weil sie keine Zeit hatten. Das Mädchen aber, dessen einziges Geschenk seine Zeit und Zuwendung war, wurde das Kind des Königs...

 

Was ist Glaube?

 

Ein Mann wanderte eines Tages im Gebirge,

bis er einen hohen Felsen erklomm,

von dem aus er meilenweit sehen

konnte. Der Tag war klar, und er

blieb eine Weile oben stehen, ruhte sich

aus und genoss den Blick. Plötzlich gab

ein brüchiger Stein am Felsrand unter

seinen Füssen nach und er stürzte ab.

Zum Glück konnte er im Fallen den Ast

eines kleinen, knorrigen Baumes ergreifen,

der aus einer Felsspalte wuchs.

Doch als er aufschaute, stellte er fest,

dass es auf keinen Fall möglich war, aus

eigener Kraft wieder hochzuklettern. Ihm

war klar, dass er sich nicht lange halten

konnte. Er brauchte Hilfe, und zwar sehr

dringend. Obwohl oben niemand zu sehen

war, schrie er: „Hilfe! Kann mir jemand

helfen?“

Man stelle sich seine Überraschung vor,

als eine gewaltige Stimme ihm von ganz

oben antwortete: „Ich werde dir helfen.“

Doch als der Mann aufschaute, sah er

niemanden. „Wo bist du?“, rief er. Die

Stimme meldete sich wieder: „Ich bin

Gott und ich werde dir helfen.“

„Ja, bitte, aber beeil dich!“, schrie der

Mann voller Angst. „Vertraust du mir?“,

fragte Gott mit seiner donnernden Stimme.

Was bleibt mir denn sonst übrig?,

dachte der Mann und rief zurück: „Ja, ich

vertraue dir!“

„Vertraust du mir wirklich?“, fragte Gott

noch einmal. „Ja, ich vertraue dir wirklich

— aber bitte beeil dich, ich kann

mich nicht mehr halten!“

„Wenn du mir wirklich vertraust“, sagte

Gott, „dann lass den Ast los.“

Der Mann schwieg kurz; dann

schrie er: „Ist da oben vielleicht

noch jemand anders?“

 

So ist der Glaube, eine unmögliche Möglichkeit, ein Wagnis, dass uns Gott schenken muss, wenn wir es können wollen.. Glaube als Vertrauen kann man nur erbitten und von ganzem Herzen suchen. Gott versprochen, dass er sich dann finden lässt.

 

Angeblich von Eugen Roth:

 

Ein Mensch, solange es ihm gut geht,

denkt selten ans Gebet,

lebt in den Tag sein Leben,

denkt nicht an den, der’s ihm gegeben

und schiebt selbst noch den schuld’gen Dank

wie’s Frommsein auf die lange Bank.

Doch: Wenn ein Unglück ihn ereilt,

dann wird der Himmel angepeilt:

Mein Gott, wenn es dich geben sollte,

schon längst ich zu dir kommen wollte!

Wie kannst du solches an mir tun?

So komm herbei und hilf mir nun!

Wird sein Anruf nicht erhört,

den Notstandsglauben ab er schwört:

Wie kann ich denn Vertrauen fassen

zu dem, der mich im Stich gelassen?!

Ob er das Beten je begreift,

der Gott wie einen Dienstmann pfeift?

 

Graf und Bohnen

 

Dies ist die Geschichte eines italienischen Grafen, der sein Haus nie verließ, ohne sich eine Handvoll Bohnen einzustecken.
Er wollte die schönen Momente des Tages bewusst wahrnehmen und sie zählen können. So ließ er jedes Mal, wenn er etwas besonders Schönes erlebte - einen Plausch mit der Nachbarin, ein Vogelzwitschern in der Abendkühle, ein Kinderlächeln, ein gutes Essen - kurz für alles, was seine Sinne erfreute, eine Bohne von der einen in die andere Jackentasche wandern.

Manchmal waren es mehrere an einem Tag, manchmal war es nur eine einzige Bohne. Abends zählte er seine Bohnen, seine glücklichen Momente des Tages. Und sogar an einem Abend, an dem er nur eine einzige Bohne aus seiner Tasche zog, war er sich dessen bewußt: auch für diesen einen Moment des Tages, der ihn glücklich gemacht hatte, hatte es sich gelohnt zu leben.

 

auch so kann man die Jahreslosung 2011 = Röm 12,21 ein Stück weit erfüllen! Ich habe das mit den bohnen einige Monate lang eingeübt. Die Sicht verändert sich. Man sieht schneller erstens das Gute.

 

 Heinrich Heines Nachwort zum Romanzero

 

Ich habe dieses Buch Romanzero genannt, weil der Romanzenton vorherrschend in den Gedichten, die hier gesammelt. Mit wenigen Ausnahmen schrieb ich sie während der letzten drei Jahre, unter mancherlei körperlichen Hindernissen und Qualen.

Gleichzeitig mit dem Romanzero lasse ich in derselben Verlagshandlung ein Büchlein erscheinen, welches »Der Doktor Faust, ein Tanzpoem, nebst kuriosen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst« betitelt ist. Ich empfehle solches einem verehrungswürdigen Publiko, das sich gern ohne Kopfanstrengung über dergleichen Dinge belehren lassen möchte; es ist eine leichte Goldarbeit, worüber gewiß mancher Grobschmied den Kopf schütteln wird. Ich hegte ursprünglich die Absicht, dieses Produkt dem Romanzero einzuverleiben, was ich aber unterließ, um nicht die Einheit der Stimmung, die in letzterem waltet und gleichsam sein Kolorit bildet, zu stören. Jenes Tanzpoem schrieb ich nämlich im Jahre 1847, zu einer Zeit, wo mein böses Siechtum bereits bedenklich vorgeschritten war, aber doch noch nicht seine grämlichen Schatten über mein Gemüt warf.

Ich hatte damals noch etwas Fleisch und Heidentum an mir, und ich war noch nicht zu dem spiritualistischen Skelette abgemagert, das jetzt seiner gänzlichen Auflösung entgegenharrt. Aber existiere ich wirklich noch? Mein Leib ist so sehr in die Krümpe gegangen, daß schier nichts übrig geblieben als die Stimme, und mein Bett mahnt mich an das tönende Grab des Zauberers Merlinus, welches sich im Walde Brozeliand in der Bretagne befindet, unter hohen Eichen, deren Wipfel wie grüne Flammen gen Himmel lodern. Ach, um diese Bäume und ihr frisches Wehen beneide ich dich, Kollege Merlinus, denn kein grünes Blatt rauscht herein in meine Matratzengruft zu Paris, wo ich früh und spat nur Wagengerassel, Gehämmer, Gekeife und Klaviergeklimper vernehme. Ein Grab ohne Ruhe, der Tod ohne die Privilegien der Verstorbenen, die kein Geld auszugeben und keine Briefe oder gar Bücher zu schreiben brauchen - das ist ein trauriger Zustand. Man hat mir längst das Maß genommen zum Sarg, auch zum Nekrolog, aber ich sterbe so langsam, daß solches nachgerade langweilig wird für mich, wie für meine Freunde. Doch Geduld, alles hat sein Ende. Ihr werdet eines Morgens die Bude geschlossen finden, wo euch die Puppenspiele meines Humors so oft ergötzten.

Was soll aber, wenn ich tot bin, aus den armen Hauswürsten werden, die ich seit Jahren bei jenen Darstellungen employiert hatte? Was soll z. B. aus Maßmann werden? Ungern verlaß ich ihn, und es erfaßt mich schier eine tiefe Wehmut, wenn ich denke an die Verse:

Ich sehe die kurzen Beinchen nicht mehr,
Nicht mehr die platte Nase;
Er schlug wie ein Pudel frisch, fromm, fröhlich, frei,
Die Purzelbäume im Grase.

Und er versteht Latein. Ich habe freilich in meinen Schriften so oft das Gegenteil behauptet, daß Niemand mehr meine Behauptung bezweifelte, und der Ärmste ein Stichblatt der allgemeinen Verhöhnung ward. Die Schulbuben frugen ihn, in welcher Sprache der Don Quixote geschrieben sei? und wenn mein armer Maßmann antwortete: in spanischer Sprache - erwiderten sie, er irre sich, derselbe sei lateinisch geschrieben und das käme ihm so spanisch vor. Sogar die eigene Gattin war grausam genug, bei häuslichen Mißverständnissen auszurufen, sie wundere sich, daß ihr Mann sie nicht verstehe, da sie doch Deutsch und kein Latein gesprochen habe. Die Maßmännische Großmutter, eine Wäscherin von unbescholtener Sittlichkeit und die einst für Friedrich den Großen gewaschen, hat sich über die Schmach ihres Enkels zu Tode gegrämt; der Onkel, ein wackerer altpreußischer Schuhflicker, bildete sich ein, die ganze Familie sei schimpfiert, und vor Verdruß ergab er sich dem Trunk.

Ich bedaure, daß meine jugendliche Unbesonnenheit solches Unheil angerichtet. Die würdige Waschfrau kann ich leider nicht wieder ins Leben zurückrufen, und den zartfühlenden Oheim, der jetzt zu Berlin in der Gosse liegt, kann ich nicht mehr des Schnapses entwöhnen; aber ihn selbst, meinen armen Hanswurst Maßmann, will ich in der öffentlichen Meinung wieder rehabilitieren, indem ich alles was ich über seine Lateinlosigkeit, seine lateinische Impotenz, seine magna linguae romanae ignorantia jemals geäußert habe, feierlich widerrufe.

So hätte ich denn mein Gewissen erleichtert. Wenn man auf dem Sterbebette liegt, wird man sehr empfindsam und weichselig, und möchte Frieden machen mit Gott und der Welt. Ich gestehe es, ich habe Manchen gekratzt, Manchen gebissen, und war kein Lamm. Aber glaubt mir, jene gepriesenen Lämmer der Sanftmut würden sich minder frömmig gebärden, besäßen sie die Zähne und die Tatzen des Tigers. Ich kann mich rühmen, daß ich mich solcher angebornen Waffen nur selten bedient habe.
Seit ich selbst der Barmherzigkeit Gottes bedürftig, habe ich allen meinen Feinden Amnestie erteilt; manche schöne Gedichte, die gegen sehr hohe und sehr niedrige Personen gerichtet waren, wurden deshalb in vorliegender Sammlung nicht aufgenommen. Gedichte, die nur halbweg Anzüglichkeiten gegen den lieben Gott selbst enthielten, habe ich mit ängstlichstem Eifer den Flammen überliefert. Es ist besser, daß die Verse brennen als der Versifex. Ja, wie mit der Kreatur, habe ich auch mit dem Schöpfer Frieden gemacht, zum größten Ärgernis meiner aufgeklärten Freunde, die mir Vorwürfe machten über dieses Zurückfallen in den alten Aberglauben, wie sie meine Heimkehr zu Gott zu nennen beliebten. Andere, in ihrer Intoleranz, äußerten sich noch herber.
Der gesamte hohe Klerus des Atheismus hat sein Anathema über mich ausgesprochen, und es gibt fanatische Pfaffen des Unglaubens, die mich gerne auf die Folter spannten, damit ich meine Ketzereien bekenne. Zum Glück stehen ihnen keine andern Folterinstrumente zu Gebote als ihre Schriften. Aber ich will auch ohne Tortur alles bekennen. Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bei den Hegelianern die Schweine gehütet. War es die Misère, die mich zurücktrieb? Vielleicht ein minder miserabler Grund. Das himmlische Heimweh überfiel mich und trieb mich fort durch Wälder und Schluchten, über die schwindlichsten Bergpfade der Dialektik. Auf meinem Wege fand ich den Gott der Pantheisten, aber ich konnte ihn nicht gebrauchen.
Dies arme träumerische Wesen ist mit der Welt verwebt und verwachsen, gleichsam in ihr eingekerkert, und gähnt dich an, willenlos und ohnmächtig. Um einen Willen zu haben, muß man eine Person sein, und, um ihn zu manifestieren, muß man die Ellbogen frei haben. Wenn man nun einen Gott begehrt, der zu helfen vermag - und das ist doch die Hauptsache - so muß man auch seine Persönlichkeit, seine Außerweltlichkeit und seine heiligen Attribute, die Allgüte, die Allweisheit, die Allgerechtigkeit u.s.w. annehmen. Die Unsterblichkeit der Seele, unsre Fortdauer nach dem Tode, wird uns alsdann gleichsam mit in den Kauf gegeben, wie der schöne Markknochen, den der Fleischer, wenn er mit seinen Kunden zufrieden ist, ihnen unentgeltlich in den Korb schiebt.
Ein solcher schöner Markknochen wird in der französischen Küchensprache la réjouissance genannt, und man kocht damit ganz vorzügliche Kraftbrühen, die für einen armen schmachtenden Kranken sehr stärkend und labend sind. Daß ich eine solche réjouissance nicht ablehnte und sie mir vielmehr mit Behagen zu Gemüte führte, wird jeder fühlende Mensch billigen.

Ich habe vom Gott der Pantheisten geredet, aber ich kann nicht umhin zu bemerken, daß er im Grunde gar kein Gott ist, so wie überhaupt die Pantheisten eigentlich nur verschämte Atheisten sind, die sich weniger vor der Sache als vor dem Schatten, den sie an die Wand wirft, vor dem Namen, fürchten. Auch haben die meisten in Deutschland während der Restaurationszeit mit dem lieben Gotte dieselbe funfzehnjährige Komödie gespielt, welche hier in Frankreich die konstitutionellen Royalisten, die größtenteils im Herzen Republikaner waren, mit dem Königtume spielten. Nach der Juliusrevolution ließ man jenseits wie diesseits des Rheines die Maske fallen. Seitdem, besonders aber nach dem Sturz Ludwig Philipps, des besten Monarchen, der jemals die konstitutionelle Dornenkrone trug, bildete sich hier in Frankreich die Meinung: daß nur zwei Regierungsformen, das absolute Königtum und die Republik, die Kritik der Vernunft oder der Erfahrung aushielten, daß man Eins von Beiden wählen müsse, daß alles dazwischen liegende Mischwerk unwahr, unhaltbar und verderblich sei. In derselben Weise tauchte in Deutschland die Ansicht auf, daß man wählen müsse zwischen der Religion und der Philosophie, zwischen dem geoffenbarten Dogma des Glaubens und der letzten Konsequenz des Denkens, zwischen dem absoluten Bibelgott und dem Atheismus.

Je entschiedener die Gemüter, desto leichter werden sie das Opfer solcher Dilemmen. Was mich betrifft, so kann ich mich in der Politik keines sonderlichen Fortschritts rühmen; ich verharrte bei denselben demokratischen Prinzipien, denen meine früheste Jugend huldigte und für die ich seitdem immer flammender erglühte. In der Theologie hingegen muß ich mich des Rückschreitens beschuldigen, indem ich, was ich bereits oben gestanden, zu dem alten Aberglauben, zu einem persönlichen Gotte, zurückkehrte. Das läßt sich nun einmal nicht vertuschen, wie es mancher aufgeklärte und wohlmeinende Freund versuchte. Ausdrücklich widersprechen muß ich jedoch dem Gerüchte, als hätten mich meine Rückschritte bis zur Schwelle irgend einer Kirche oder gar in ihren Schoß geführt. Nein, meine religiösen Überzeugungen und Ansichten sind frei geblieben von jeder Kirchlichkeit; kein Glockenklang hat mich verlockt, keine Altarkerze hat mich geblendet. Ich habe mit keiner Symbolik gespielt und meiner Vernunft nicht ganz entsagt. Ich habe nichts abgeschworen, nicht einmal meine alten Heidengötter, von denen ich mich zwar abgewendet, aber scheidend in Liebe und Freundschaft. Es war im Mai 1848, an dem Tage, wo ich zum letzten Male ausging, als ich Abschied nahm von den holden Idolen, die ich angebetet in den Zeiten meines Glücks. Nur mit Mühe schleppte ich mich bis zum Louvre, und ich brach fast zusammen, als ich in den erhabenen Saal trat, wo die hochgebenedeite Göttin der Schönheit, Unsere liebe Frau von Milo, auf ihrem Postamente steht. Zu ihren Füßen lag ich lange, und ich weinte so heftig, daß sich dessen ein Stein erbarmen mußte. Auch schaute die Göttin mitleidig auf mich herab, doch zugleich so trostlos, als wollte sie sagen: siehst du denn nicht, daß ich keine Arme habe und also nicht helfen kann?

Ich breche hier ab, denn ich gerate in einen larmoyanten Ton, der vielleicht überhandnehmen kann, wenn ich bedenke, daß ich jetzt auch von Dir, teurer Leser, Abschied nehmen soll. Eine gewisse Rührung beschleicht mich bei diesem Gedanken; denn ungern trenne ich mich von Dir. Der Autor gewöhnt sich am Ende an sein Publikum, als wäre es ein vernünftiges Wesen. Auch dich scheint es zu betrüben, daß ich Dir Valet sagen muß; du bist gerührt, mein teurer Leser, und kostbare Perlen fallen aus deinen Tränensäckchen. Doch beruhige Dich, wir werden uns wiedersehen in einer besseren Welt, wo ich dir auch bessere Bücher zu schreiben gedenke. Ich setze voraus, daß sich dort auch meine Gesundheit bessert und daß mich Swedenborg nicht belogen hat. Dieser erzählt nämlich mit großer Zuversicht, daß wir in der andern Welt das alte Treiben, ganz wie wir es in dieser Welt getrieben, ruhig fortsetzen, daß wir dort unsere Individualität unverändert bewahren und daß der Tod in unserer organischen Entwickelung gar keine sonderliche Störung hervorbringe. Swedenborg ist eine grundehrliche Haut, und glaubwürdig sind seine Berichte über die andere Welt, wo er mit eigenen Augen die Personen sah, die auf unserer Erde eine Rolle gespielt. Die meisten, sagt er, blieben unverändert und beschäftigen sich mit denselben Dingen, mit denen sie sich auch vormals beschäftigt; sie blieben stationär, waren veraltet, rokoko, was sich mitunter sehr lächerlich ausnahm.
So z. B. unser teurer Doktor Martinus Luther war stehen geblieben bei seiner Lehre von der Gnade, über die er während dreihundert Jahren tagtäglich dieselben verschimmelten Argumente niederschrieb - ganz in derselben Weise wie der verstorbene Baron Eckstein, der während zwanzig Jahren in der Allgemeinen Zeitung einen und denselben Artikel drucken ließ, den alten jesuitischen Sauerteig beständig wiederkäuend. Aber, wie gesagt, nicht alle Personen, die hienieden eine Rolle gespielt, fand Swedenborg in solcher fossilen Erstarrung; sie hatten im Guten wie im Bösen ihren Charakter weidlich ausgebildet in der anderen Welt, und da gab es sehr wunderliche Erscheinungen. Helden und Heilige dieser Erde waren dort zu Lumpen und Taugenichtsen herabgesunken, während auch das Gegenteil stattfand.
So z. B. stieg dem heiligen Antonius der Hochmut in den Kopf, als er erfuhr, welche ungeheure Verehrung und Anbetung ihm die ganze Christenheit zollt, und er, der hienieden den furchtbarsten Versuchungen widerstanden, ward jetzt ein ganz impertinenter Schlingel und liederlicher Galgenstrick, der sich mit seinem Schweine um die Wette in den Kot wälzt. Die keusche Susanne brachte der Dünkel ihrer Sittlichkeit, die sie unbesiegbar glaubte, gar schmählich zu Falle, und sie, die einst den Greisen so glorreich widerstanden, erlag der Verlockung des jungen Absalon, Sohn Davids. Die Töchter Lots hingegen hatten sich im Verlauf der Zeit sehr vertugendhaftet und gelten in der andern Welt für Muster der Anständigkeit; der Alte verharrte leider bei der Weinflasche.

So närrisch sie auch klingen, so sind doch diese Nachrichten eben so bedeutsam wie scharfsinnig. Der große skandinavische Seher begriff die Einheit und Unteilbarkeit unserer Existenz, so wie er auch die unveräußerlichen Individualitätsrechte des Menschen ganz richtig erkannte und anerkannte. Die Fortdauer nach dem Tode ist bei ihm kein idealer Mummenschanz, wo wir neue Jacken und einen neuen Menschen anziehen; Mensch und Kostüm bleiben bei ihm unverändert. In der anderen Welt des Swedenborg werden sich auch die armen Grönländer behaglich fühlen, die einst, als die dänischen Missionäre sie bekehren wollten, an diese die Frage richteten: ob es im christlichen Himmel auch Seehunde gäbe? Auf die verneinende Antwort erwiderten sie betrübt: der christliche Himmel passe alsdann nicht für Grönländer, die nicht ohne Seehunde existieren könnten.

Wie sträubt sich unsere Seele gegen den Gedanken des Aufhörens unserer Persönlichkeit, der ewigen Vernichtung! Der horror vacui, den man der Natur zuschreibt, ist vielmehr dem menschlichen Gemüte angeboren. Sei getrost, teurer Leser, es gibt eine Fortdauer nach dem Tode, und in der anderen Welt werden wir auch unsere Seehunde wiederfinden.

Und nun, lebe wohl, und wenn ich Dir etwas schuldig bin,
so schicke mir Deine Rechnung. -

Geschrieben zu Paris, den 30. September 1851.

 

Heitere Gedanken eines älteren Menschen

 

Die Ecke meiner Straße ist doppelt so weit entfernt wie vorher

und sie haben eine Steigung eingebaut, die ich vorher nie bemerkt habe.

Ich muss aufhören, dem Bus nachzulaufen, denn er fährt schneller ab als vorher.

Ich habe den Eindruck, man macht die Treppenstufen höher als früher.

Und haben Sie schon bemerkt, welch kleine Buchstaben die Zeitungen heute verwenden?

Es nutzt überhaupt nichts, wenn man die Leute bittet, deutlicher zu sprechen. Jeder spricht so leise, dass man nichts versteht.

Man macht Kleidung heutzutage so eng, besonders an der Taille und an den Hüften, sodass es wirklich unbequem ist.

Auch die jungen Leute haben sich geändert: Sie sind wesentlich jünger, als ich es in ihrem Alter war. Andererseits sind die Leute in meinem Alter wohl älter als ich es bin.

Neulich habe ich einen alten bekannten getroffen. Er ist derart gealtert, dass er mich nicht wiedererkannte.

Ich dachte über all das nach, während ich mich heute morgen wusch und anzog. Auch die Spiegel haben eine schlechtere Qualität als noch vor 69 Jahren...

 

Von Axel Kühner:


Wenn man in Kurba, einem kleinen russischen Dorf, die Kirche betritt, blickt man auf ein großes, wunderschönes Bild: In leuchtenden Farben ist da Jesus gemalt. Und: Jesus hält dem Betrachter eine aufgeschlagene Bibel vor Augen. Man kann zuerst die Worte Jesu aus dem Mt, Kap. 11, V. 28 lesen: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken“, zu Deutsch: ich will euch Ruhe und Rast geben, Frieden und neue Kraft.

 

Daneben liest man in großen Buchstaben folgende Rede von Jesus: „

 

„Ich bin das Licht der Welt – aber ihr schaut nicht auf mich.

Ich bin der Weg – aber ihr geht nicht auf mir.

Ich bin die Wahrheit – aber ihr glaubt mir nicht.

Ich bin der Lehrer – aber ihr hört mir nicht zu.

Ich bin der Herr – aber ihr gehorcht mir nicht.

Ich bin euer Gott – aber ihr betet nicht zu mir.

Ich bin euer bester Freund – aber ihr liebt mich nicht.

Wenn ihr unglücklich seid – gebt nicht mir die Schuld daran“.

 

Ob Glück oder Unglück...


Im alten China lebte einst ein armer, alter Bauer, dessen einziger Besitz ein wundervoller weißer Hengst war. Selbst der Kaiser träumte davon, dieses Pferd zu besitzen. Er bot dem Alten Säcke voller Gold und Diamanten, doch der Alte schüttelte beharrlich den Kopf und sagte: "Mir fehlt es an nichts. Der Schimmel dient mir seit vielen Jahren und ist mir zum Freund geworden. Und einen Freund verkauft man nicht, nicht für alles Geld der Welt".

Und so zogen die Gesandten des Kaisers unverrichteter Dinge wieder ab. Die Dorfbewohner lachten über soviel Unvernuft. Wie konnte der Alte bloß wegen eines Pferdes soviel Reichtum und Glück ausschlagen? Eines Morgens war das Pferd verschwunden. DIe Dorfbewohner liefen aufgeregt vor dem leeren Stall zusammen, um das Unglück des alten Bauern zu beklagen. "Sag selbst, Alter, hat sich deine Treue gelohnt? Du könntest ein reicher Mann sein, wenn DU nicht so eigensinnig gewesen wärst. Jetzt bist Du ärmer als zuvor. Kein Pferd zum Arbeiten und kein Gold zum Leben. Ach, das Unglück hat Dich schwer getroffen".

Der alte Bauer blickte bedächtig in die Runde, nickte nachdenklich und sagte: "Was redet Ihr da? Das Pferd steht nicht mehr im Stall - das ist alles, was ich sehe. Vielleicht ist es ein Unglück, vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon so genau?" 

Tuschelnd gingen die Leute auseinander. Der Alte musste durch den Schaden wirr im Kopf geworden sein. Anders ließen sich seine Worte nicht erklären. Einige Tage später - es war ein warmer, sonniger Frühlingstag und das halbe Dorf arbeitete in den Feldern - stürmte der vermisste Schimmel laut wiehernd die Dorfstraße entlang. Die Sonne glänzte auf seinem Fell, und Mähne und Schweif flatterten wie feinste Silberfäden im Wind. Es war ein herrlicher Anblick, wie er voller Kraft und Anmut dahergaloppierte. Doch das war es nicht allein, was die Dörfler erstaunt die Augen aufreißen ließ. Noch mehr Staunen riefen die sechs wilden Stuten hervor, diehinter dem Hengst hertrabten und ihm in die offene Koppel folgten. "O Du glücklicher, von den Göttern gesegneter Mann! Jetzt hast Du sieben Pferde und bist doch noch zum reichen Mann geworden. Bald wird der Nachwuchs deine Weiden füllen. Wer hätte gedacht, dass Dir noch einmal soviel Glück geschieden wäre?" riefen sie, während sie dem alten Mann zu seinem unverhofften Reichtum gratulierten. Der alte schaute gelassen in die aufgeregte Menge und erwiederte: 

"Ihr geht zu weit. Sagt einfach: Jetzt hat er sieben Pferde. Ob das Glück bringt oder Unglück - niemand weiß es zu sagen. Wir sehen immer nur Bruchstücke. Wie will man da das Ganze beurteilen? Das Leben ist so unendlich vielfältig und überraschend".

Verständnislos hörten ihm die Leute zu. Die Gelassenheit des Alten war einfach unbegreiflich. Andererseits war er schon immer etwas komisch gewesen. Nun ja, sie hatten andere Sorgen. Der alte Bauer hatte einen einzigen Sohn . In den folgenden Wochen begann er, die Wildpferde zu zähmen und einzureiten. Er war ein ungeduldiger, junger Mann, und so setzte er sich zu früh auf eine der wilden Stuten. Dabei stürzte er so unglücklich vom Pferd, dass er sich beide Beine mehrfach brach. Obwohl die Heilerin ihr Bestes tat, war allen klar, dass seine Beine nie wieder ganz gesund werden würden. Für den Rest seines Lebens würde er ein hinkender, behinderter Mann bleiben. Wieder versammelten sich die Leute vor dem Haus des Alten: "O du armer, alter Mann" jammerten sie, "nun entpuppt sich dein Glück als großes Unglück. Dein einziger Sohn, die Stütze deines Alters, ist nun ein hilfloser Krüppel und kann dir keine Hilfe mehr sein. Wer wird dich ernähren und die Arbeit tun, wenn Du keine Kraft mehr hast? Wie hart muss dir das Schicksal erscheinen, das dir solches Unglück beschert". Wieder schaute der Alte in die Runde und antwortete:

"Ihr seid vom Urteilen besessen und malt die Welt entweder schwarz oder weiß. Habt Ihr immer noch nicht begriffen, dass wir nur Bruchstücke des Lebens wahrnehmen? Das Leben zeigt sich uns nur in winzigen Ausschnitten, doch ihr tut, als könntet ihr das Ganze beurteilen. Tatsache ist, mein Sohn hat beide Beine gebrochen und wird nie wieder so laufen können wie vorher. Lasst es damit genug sein. Ob Glück oder Unglück, wer weiß das schon?"

Nicht lange danach, rüstete der Kaiser zum großen Krieg gegen sein Nachbarland. Die Häscher ritten durchs Land und zogen die Väter und Söhne zu Kriegsdiensten ein. Das ganze Dorf war von Wehklagen und Trauer erfüllt, denn alle wussten, dass die meisten Männer aus diesem blutigen und aussichtslosen Krieg nicht mehr heimkehren würden. Wieder einmal liefen die Dorfbewohner vor dem Haus des alten Bauern zusammen. "Wie recht du doch hattest. Jetzt bringt dein verkrüppelter Sohn dir doch noch Glück. Zwar wird er dir keine große Hilfe mehr sein können, aber wenigstens bleibt er bei dir. Wir sehen unsere Lieben bestimmt nie wieder, wenn sie erst einmal in den Krieg gezogen sind. Dein Sohn aber wird bei dir sein und mit der Zeit auch wieder mithelfen können. Wie konnte nur ein solches Unglück über uns kommen? Was sollen wir nur tun?"

Der Alte schaute nachdenklich in die Gesichter der verstörten Leute, dann erwiderte er: "Könnt ich euch nur helfen, weiter und tiefer zu sehen, als ihr es bisher vermögt. Wie durch ein Schlüsselloch betrachtet ihr das Leben, und doch glaubt ihr, das Ganze zu sehen. Niemand von uns weiß, wie sich das große Bild zusammensetzt. Was eben noch ein großes Unglück scheint, mag sich im nächsten Moment als Glück erweisen. Andererseits erweist sich scheinbares Unglück auf längere Sicht oft als Glück. Sagt einfach: Unsere Männer ziehen in den Krieg, und dein Sohn bleibt zu Hause. Was daraus wird, weiß keiner von uns. Und jetzt geht nach Hause, und teilt die Zeit miteinander, die euch bleibt.

 

Von der Liebe getragen

 

(von Elli Michler)

 

Wo du geliebt wirst, kannst du getrost alle Masken ablegen,

darfst du dich frei und ganz offen bewegen.

Wo du geliebt wirst, zählst du nicht nur als Artist,

wo du geliebt wirst, darfst du so sein, wie du bist.

 

Wo du geliebt wirst, musst du nicht immer nur lachen,

darfst du es wagen, auch traurig zu sein.

Wo du geliebt wirst, darfst du auch Fehler machen,

und du bist trotzdem nicht hässlich und klein.

 

Wo du geliebt wirst, darfst du auch Schwächen zeigen

Oder den fehlenden Mut,

brauchst du die Ängste nicht zu verschweigen,

wie das der Furchtsame tut.

 

Wo du geliebt wirst, darfst du auch Sehnsüchte haben,

manchmal ein Träumender sein,

und für Versäumnisse, fehlende Gaben

räumt man dir mildernde Umstände ein.

 

Wo du geliebt wirst, brauchst du nicht ständig zu fragen

Nach dem vermeintlichen Preis.

Du wirst von der Liebe getragen,

wenn auch unmerklich und leis.

 

Ich habe diese Liebe, die Elli Michler so gut beschreibt, als doppelten Lebenssinn entdeckt: Erstens fühle ich mich in dieser Weise von dem Mann aus Nazareth getragen, der uns von der Krippe bis zum Kreuz seine Liebe und Treue gezeigt hat und zweitens macht es mich sehr froh, wenn ich selbst versuche, anderen Menschen in meiner Nähe solche tragende Liebe weiterzugeben. Mir gelingt das natürlich nicht so, wie dem, der in Bethlehem für uns zur Welt kam und dessen Geburt wir gerade feierten. Aber: Wie ein Stern das Licht der Sonne spiegelnd ein Licht für uns ist in der Nacht, so möchte ich schon etwas von seinem Weihnachtslicht weitergeben. Von meiner Mutter lernte ich folgendes Gebet:

 

Herr, das will ich mir schreiben in Herz und Sinn,

dass ich nicht für mich selbst auf Erden bin,

dass ich die Liebe, von der ich Lebe,

liebend an andere weitergebe.

 

Jedenfalls – egal, wie Sie zum Glauben stehen oder wie Du zum Glauben stehst – lasst es uns versuchen, für unsere Mitmenschen Orte um uns herum zu schaffen, wo sich Klein und Groß getragen, erwünscht oder sogar geliebt fühlen!