Die Briefe an Timotheus und Titus im Neuen Testament

 

(von vielen auch "Pastoralbriefe" genannt, weil sie an "Pastoren" des frühen Christentums geschrieben wurden)

 

Einleitung

 

Den Text, nach dieser Einleitung, findest du im Internet bei Wikipedia. Ich habe ihn inhaltlich im Wesentlichen geschrieben. (Allerdings wird bei Wikipedia derzeit diskutiert, ob der Beitrag "neutral" und ausgewogen genug ist.) Zusätzliche Infos über den Wikipedia-Artikel hinaus gebe ich als solche in dem Text an. Weiterführende Gedanken folgen dem Artikel. Falls du dich wissenschaftlich mit den Briefen an Timotheus und Titus (1.Tim, 2.Tim und Tit) im Neuen Testament befassen möchtest, findest du im Folgenden einen knappen Einstieg ins Thema sowie unter der Rubrik "Über mich" auf dieser Homepage meine bisher veröffentlichten Beiträge zu den drei Briefen. In kleingedruckter Parenthese füge ich für stärker Interessierte zwischen den Haupttext u. a. Hinweise auf speziellere Literatur oder zusätzliche Überlegungen ein, die der eiligere Leser übergehen mag.

 

Den besten derzeitigen Überblick über die aktuelle wissenschaftliche Literatur der letzten 10 Jahre zu den Pastoralbriefen hat Howard Marshall geschrieben:

 

"The Pastorals in Recent Study". Du findest ihn in: A. J. Köstenberger / T. L. Wilder (Ed.), Entrusted with the Gospel . Paul’s Theology in the Pastoral Epistles, Nashvill, Tennessee 2010, dort: S. 268-324.

 

Zur Forschungsgeschichte und Kritik der Behandlung dieser Briefe wie nur einen Brief vgl. auch sehr lesenswert:

 

M. Engelmann, Unzertrennliche Drillinge? Motivsemantische Untersuchungen zum literarischen Verhältnis der Pastoralbriefe (BZNW 192 / De Gruyter), Berlin, Boston 2012

 

Was ich vor allem zeigen möchte, ist: Die ersten Christen verharrten nicht (wie später häufig die Kirche) starr und unflexibel in einer bestimmten Sprache und Form, wenn sie von ihrem Glauben sprachen und ihre Frömmigkeit lebten. Sie übernahmen ganz im Gegenteil – und uns zum Vorbild – aus Liebe zu den Nichtchristen soweit es irgend ging deren Sprache, Ethik und Kultur, um für den damals neuen Glauben mit ihrem ganzen Leben zeitgemäß einladend, verständlich und unanstößig "Werbung" zu machen.

 

Wie Kirchengemeinde heute so menschenfreundlich entwickelt werden kann, hat Rick Warren, der Gemeindepastor des amerikanischen Präsidenten Obama, gut begründet und praxisnah umsetzbar dargelegt (und außerdem durch praktische Erprobung reichlich bewiesen), und zwar in seinem Buch: "Kirche mit Vision: Gemeinde, die den Auftrag Gottes lebt", Verlag Projektion J (ISBN: 3894905034). Würden seine 

aus dem Neuen Testament abgeleiteten Anregungen für eine mit Liebe zu den Mitmenschen entwickelte Gemeinde der Zukunft in unseren Kirchengemeinden und bei Reformversuchen der Kirche umgesetzt – ich bin mir sicher – wir hätten keinen Mitgliederschwund, sondern Zulauf dankbarer Menschen (wie es in Gemeinden der Fall ist, die Rick Warren gegründet oder die seine Anregungen inspiriert haben), weil sie bei uns innere Heimat und Orientierung für ihr Leben und optimale Betätigungsfelder für ihre Begabungen finden würden, anstatt durch weltfremde Sprache und antiquiert-unzeitgemäße (Gottesdient)Formen vom Evangelium von Jesus Christus fern gehalten zu werden. Tröstlich für uns: Schon die ersten Christen, ja, der engste Jüngerkreis Jesu, musste eine „harte Schule“ der Kritik ihres Meisters durchlaufen, um zu begreifen, dass Jesus eine wirklich menschenfreundlich-einladende neue Gemeinschaft gründen wollte, zuallererst sogar für die Kinder: Vgl. Mk 10,13-16. Auch andere, die Menschen von ihm fern halten wollten, verschonte er nicht mit gestochen scharfer Kritik: Vgl. die lieblosen „Frommen“ in Lk 15,1-2 und dann Jesu Kritik an diesen über seine Menschenfreundlichkeit Murrenden in 15,3-32 oder vgl. Lk 7,36-50.

 

 

Wie christliches Miteinander in einem öffentlich beobachteten und auch von jüdischen und nichtjüdischen Nichtchristen besuchten Gottesdienst im 1.Jh. n. Chr. einladend geschehen sollte, entfaltet Paulus in 1.Kor 9,19-14,40 für christliche Frauen und Männer, die in einer gemeinsamen "öffentlichen Versammlung" (griech. Ekklesia) ihren Gott anbeten und sein Wort hören wollten.

 

Vgl. sehr informativ zu damaligen Gottesdiensten auch. P. Wick, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmender der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit, Stuttgart 2.Aufl. 2003.

   

Frauen waren damals mehrheitlich wenig gebildet und wurden jung aus dem Elternhaus weg verheiratet. Sie waren ihren (gewöhnlich älteren) Männern in Sachen Bildung nicht gewachsen. Also sollten Frauen nach Ansicht Jesu (vgl. u. a. Lk 10,38-41) und der ihm folgenden Christen unbedingt theologische Bildung erlangen (1.Tim 2,11; 1.Kor 14,35). Aber in einem öffentlich beobachteten Gottesdienst (1.Kor 11-14) / in einer öffentlichen Gebetsversammlung (1.Tim 2,1-4,16) galt, für uns heute unverständlich: "In der öffentlichen Versammlung (Ekklesia) sollen Frauen schweigen. Wenn Frauen lernen wollen, sollen sie dies privat / im Haus mit ihren Männern tun. Es steht einer Frau schlecht an, in der öffentlichen Versammlung am Lehrgespräch (vgl. dessen Regelung in 14,1-40) teilzunehmen."

 

Nach 1.Kor 11-14 und 1.Thess 5,12-28 galt für Gemeinde und ihre Leiter und Lehrer, dass der Gott des Friedens in einem öffentlich zugänglichen Gottesdienst (vgl. u. a. 1.Kor 14,23ff; 1.Thess 5,15) gemeinsam durch Verhalten und Wort bezeugt werden sollte. Diese Gottesdienste waren scheinbar in einem Dreitakt aufgebaut, wie u. a. die beiden o. g. Texte 1.Kor 14 und 1.Thess 5,12 bis v.a. Vers 22 vermuten lassen: 1. Gemeinsames Gebet von Männern und Frauen – 2. Prophetische Worte von Männern und Frauen – 3. Das prüfende Lehrgespräch, dass mit Rücksicht auf die Nichtchristen öffentlich nur Männer führten. Da Prophetie im NT (im Gegensatz zu Schrift- und Herrenworten) immer der kritischen Prüfung bedurfte (1.Thess 5,19-22; vgl. Röm 12,6b: Prophetie muss mit dem Glauben übereinstimmen, den die Christen haben, ist also daran zu prüfen), um das aktuelle Wort Gottes zur Situation herauszufinden, schloss sich das prüfende Lehrgespräch an die Prophetie an. Vgl. auch die Reihenfolge in 1.Kor 12,28: Allen voran die Apostel (geben normativ vor, was gelehrt und geglaubt wird), Proheten (sprechen Wort Gottes zur aktuellen Situation), Lehrer (geben der Gemeinde danach das geprüfte Wort Gottes weiter, was dann als Lehre gilt). Prophetie ist also sozusagen "eingerahmt" von den Instanzen, die bestimmen, was für die christliche Gemeinde für Glauben und Leben gilt. 

 

Frauen waren zwar im Christentum den Männern gleichgestellt (Gal 3,28; 1.Kor 11,11-12; vgl. die Haltung der Maria in Lk 10,39, eine Haltung, wie sie sonst männliche Thoraschüler einnahmen, wenn ihr Rabbi sprach), aber nach 1.Kor 10,32-33 war die Ansicht sowohl der jüdischen Nichtchristen (vgl. deren Meinung, die in 1.Kor 11,3-10; 14,34 als missionsethischer Maßstab in ihren Worten wiedergegeben  wird) als auch der nichtjüdischen Nichtchristen (vgl. deren Meinung, die mit ihren Worten in 1.Kor 11,13-15; 14,35b,  wiedergegeben wird) Maßstab dafür, wie christliche Frauen und Männer sich öffentlich im gemeinsamen Gottesdienst verhalten mussten. Es galt ja, die Botschaft von Jesus Christus den Nichtchristen zu vermitteln. Diese durften die Botschaft nicht als „gegen das Gesetz (des Mose)“ oder „unmoralisch“ u. ä.  empfinden. Oberste Maxime für öffentliches Verhalten der Frauen und Männer beim gemeinsamen, öffentlichen Gebet (1.Tim 2,1-3) war der Missionsauftrag: "Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen" (1.Tim 2,4). Nichtchristliche Juden und Nichtjuden akzeptierten zwar zu Gott hin betende Frauen und auch zu Männern sprechende Prophetinnen (vgl. in Lk 2,22-40 die – von Lukas wohl bewusst erst an zweiter Stelle, d. h. nach einem männlichen Propheten Simeon, auch erwähnte Prophetin Hanna! Und gewagt, aber ebenso erst nach Lk 15,1-7: Der die Menschen suchende Gott wird erst zweitens auch in Lk 15,8-10 mit einer Frau verglichen, die eine Münze sucht). Frauen mussten allerdings als Beterinnen und Prophetinnen klar erkennbar legitimiert dazu sein und mussten dementsprechend in Haartracht und Kleidung unanstößig auftreten (vgl. 1.Kor 11,3-16; 1.Tim 2,9ff). Als Lehrerinnen der Männer in der Öffentlichkeit aber, der Männer, die zudem nicht ihre Ehemänner waren, wurden Frauen von Nichtchristen mehrheitlich nicht akzeptiert. Für die damalige Mehrheit war dies ein inakzeptables "Regieren" der Frau über den Mann in form der "Belehrung", wogenen Paulus das Verhalten der Frau im öffentlichen Gebetsgottesdienst - für uns heute in der westlichen Welt schwer zu hören - missionsförderlich mit Sätzen wie 1.Tim 2,11-12; 1.Kor 14,34-35 regelte. Wer "den Juden ein Jude und den Griechen wie ein Grieche" werden/predigen wollte, um sie für den Christenglauben zu "gewinnen" (1.Kor 9,19-22), musste ihnen unanstößig begegnen (1.Kor 10,31-33). Nur "in Christus" waren Frau und Mann gleichgestellt (1Kor 11,11-12), nicht aber im öffentlichen Gottesdienst (1.Kor 11,3-10.13-16). Auch heute könnten Männer und Frauen als öffentlich auftretenede und beobachtete Christen in Gegenden, in denen Frauen dem Mann nicht gleichgestellt sind, öffentlich kaum anders auftreten als es schon Paulus für solche Situationen empfahl: nach den allgemein gültigen Verhaltensregeln für die unterschiedlichen Geschlechter.

 

(Ein wichtiges Beispiel dafür, dass man nichts aus der Bibel streichen sollte! Was durch viele Jhh. Christentum in der westlichen Welt an Freiheit gewachsenen ist, ist in den Augen von Menschen anderer Kulturkreise "empörend" oder "Irrsinn", "illegitim" oder sogar "Gotteslästerung" u. ä. So wird man auch nicht 1.Kor 11,1-16 und 14,33-40 und 1.Tim 2,1-15; 4,1ff aus dem Bibelkanon als "nicht mehr zeitgemäß" entfernen können. Diese Texte beantworten höchst aktuell, wie man von 1.Kor 9,20-22; 10,31-33 und 1.Kor 13 her die Botschaft des christlichen Glaubens in einer Gestalt vermitteln kann, die in anderen Kulturkreisen nicht als "schockierend" oder "abstoßend" empfunden wird. Wer allerdings 1.Kor 14,33-40 und 1.Tim 2,9-12 in unserem Kulturkreis und Gemeindeleben wörtlich umsetzt, stößt  Menschen ebenso vom christlichen Glauben ab und vergisst den Einwurf des Paulus in 1.Kor 11,11-12 mitten hinein in die damaligen jüdichen (1.Kor 11,3-10) und griechischen (1.Kor 11,13-16) Ansichten zum Thema Frau in der Öffentlichkeit / im Gottesdienst. Bibellesen und -leben ist eine spannende Sache und nur von der Liebe zu Gott und Menschen her "machbar".).

 

Wie dem aber auch sei – insbesondere 1.Tim und Tit sind jedenfalls keine theologischen Lehrschreiben (wie ganz anders etwa der für mit der Lehre des Paulus nicht vertraute Christen bestimmte Römerbrief). Mitarbeiter des Paulus bedurften keiner Entfaltung der Lehre des Paulus. Sie kannten und befürworteten diese Lehre (vgl. 1.Kor 4,16-17; Phil 2,19-24; 2.Tim 3,14-17; Gal 2,1.3 u. ö.). Darum wurden die Mitarbeiterbriefe 1.Tim und Tit ganz aus dem Geist von 1.Kor u. a. 9,20-22; 10,32-33; 11,1-16; 14,23-40 und von 1.Thess 4,1-12; Philipper 3,17-4,8f heraus geschrieben. M. a. W.: Die beiden Mitarbeiterschreiben sind als Anweisungen für ein missionsdienlich-einladendes, nicht abstoßendes Verhalten unter Nichtchristen der hellenistischen Kultur zu lesen. Dazu sollten Titus und Timotheus ihre Gemeinden anleiten. Denn: Die ersten Christen folgten dem Ruf Jesu, ihr Licht nicht unter den Scheffel zu stellen, sondern so mit guten Taten für alle Mitmenschen da zu sein, dass diese darüber anfangen, den himmlischen Vater der Christen zu loben (vgl. Mt 5,13-16; vgl. solche Zielangabe unterschiedlich angedeutet auch in 1.Kor 14,23ff; Phil 4,5-9; Tit 2,10-3,8; 1.Tim 1,15-2,7). Am deutlichsten scheint mir der Titusbrief, aber klar genug auch noch der 1.Timotheusbrief, diesem Gebot Jesu für „alle Menschen“ zu „leuchten“ zu folgen und von daher eine einladende Ethik der "guten Taten für alle Menschen" zu lehren. Tit wurde allerdings für mehrere neu gegründete Gemeinden geschrieben, die aktuell noch nicht unter gegnerischen Angriffen oder öffentlicher Kritik litten. Die Verhaltensregeln Tit 1,10-16; 2,5.8; 3,9-11 für den Fall, dass derartige Attacken beginnen sollten, sind allesamt nur vorbeugend formuliert worden, während 1.Tim für eine einzelne Gemeinde in Ephesus verfasst wurde, die von mit Namen bekannten Gegnern aktuell öffentlich "verlästert" wurde (vgl. 1.Tim 1,18-20 mit dem wahrscheinlichen Hintergrund Apg 19,9-10). Die Gemeinde des 1.Tim in Ephesus musste darum auf eine sehr bedrohliche Situation vorbereitet bzw. in einer bedrohlich werdenden Situation zu deeskalierendem Verhalten angeleitet werden. Der Brief wurde meiner Meinung nach am Vorabend des in Apg 19,23-40 geschilderten, beängstigenden Aufruhrs in Ephesus gegen den neuen Glauben geschrieben, der Paulus nur ein Jahr später beinahe das Leben gekostet hätten (vgl. seinen Rückblick darauf in 2.Kor 1,8ff).

 

Dass vor allem 1.Tim aktuelle Auseinandersetzungen mit anderen Weltanschauungen spiegelt, hat jetzt einmal mehr B. Mutschler, Glaube in den Pastoralbriefen . Pistis als Mitte christlicher Existenz, Tübingen 2010 nachgewiesen.

 

Nach dem eben gesagten ist es jedenfalls kein Wunder, dass die Verhaltensregeln in Tit und 1.Tim, ob prophylaktisch (Tit) oder für aktuelle Auseinandersetzungen mit realen Gegnern (1.Tim) formuliert, den Verhaltensnormen für römische Verantwortungsträger entsprechen. Christen mussten sich bei Anklagen und Verhören vor römischen Beamten verantworten und vor allem ihnen nachweisen, dass sie sich aus deren Sicht nichts hatten zuschulden kommen lassen (vgl. u. a. Apg 18,1-17; 19,31.35-40 und dann Apg 21,27-28,31).

 

Dass die Verhaltensregeln in Tit und 1.Tim den Verhaltensmaßstäben für römische Verantwortungsträger entsprechen, hat B. A. Paschke, The cura morum of the Roman Censors as Historical Background for the Bishop and Deacon Lists of the Pastoral Epistles, in: ZNW 98 (2007) S. 105-119 gezeigt.

Ein ehemaliger Bürgervorsteher meines Heimatortes sagte öfter: "Wer nicht mit der Zeit geht, geht  mit der Zeit!" und ich möchte es mit Paulus umformulieren: Eine Kirche, die in Sprache und Formen nicht mit den Zeitgenossen geht, geht mit der Zeit - d. h.: sie lässt die Mitmenschen im Stich und wird für sie bedeutungslos. Vgl. dazu Jesu Wort Mt. 5,13. Jesus wurde Mensch für Menschen. Aber: So manche Kirche und Kirchengemeinde - hat mal jemand gesagt - stirbt bis heute immer noch mit den letzten Worten auf den Lippen: "Das haben wir doch schon immer so gemacht!" M. a. W.: "Wer will, dass die Kirche so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass die Kirche bleibt!" (der Autor dieser Worte ist mir unbekannt). Nicht zuletzt Tit und 1.Tim machen mir Mut, immer neu danach zu fragen, was Nichtchristen und Kirchendistanzierte um die Gemeinden bewegt, welche Sprache sie sprechen, was sie tröstet, wie ich als Christ unter ihnen als ihr Mitmensch so leben kann, dass sie "zwischen den Zeilen" meines Lebens den Gott heraushören können, der mich "bewohnt" (vgl. Gal 2,20). Paulus hat es – frei nach der Lutherübersetzung 1984 –  so gegenüber neu Getauften ausgedrückt: "Ich bin so geworden wie ihr, damit ihr so werden könnt, wie ich": Gal 4,12. Warum werden in vielen Gottesdiensten überwiegend Lieder und Melodien vergangener Jahrhunderte gespielt und gesungen, samt weltfremder, für die Welt da draußen fremder Liturgie-Gesänge? Ein Gang in den nächsten Musikladen könnte zeigen, dass solche Musik höchstens von 1 % der Kundschaft gekauft und also gehört und für ihr Leben als tröstlich oder Freude bereitend empfunden wird. Warum lässt man also 99 % der Mitmenschen durch den Gebrauch von weltfremden Gottesdienstgesängen im Stich bzw. erschwert ihnen den Zugang, macht sich in ihren Augen unattraktiv? (Von einem Auftrag Jesu, Kirchengemeinden als Museen für vergangene Kulturen zu gründen, habe ich im NT nichts gelesen). Ein Blick in das vor wenigen Jahren eingeführte "neue" Evangelische Gesangbuch z. B. lässt uns sofort erkennen: Kapitel wie "Kinder- und Familiengottesdienstlieder" (z. B. schon lange von Kinderkirchentagen bekannt), "Lieder für Jugendgottesdienste", "christliche Rock-, Pop- und Gospellieder" o. ä. fehlen komplett und die wenigen "neueren" Lieder im EG habe ich zum größten Teil schon als Konfirmand gesungen, der ich auf die 50 zugehe. Dabei sind gerade Musik und Gesang für Menschen als Lebensbegleiter sehr wichtig und der Musikstil und Gesang in Gottesdiensten ist ein sehr entscheidender Faktor dafür, ob Erstbesucher eines Gottesdienstes gerne wiederkommen oder nicht. Aus 1.Kor, 1.Tim und Tit kann man m. E. auch ableiten: Gottes Liebe kann man nicht mit weltfremden, lieblos gestalteten Gottesdiensten verkünden, ohne Liebe zu denen, die daran teilnehmen wollen und sollen. (Speziell zur Kirchenmusik in menschenfreundlich-einladend gestalteten Gottesdiensten hat Rick Warren konstruktiv-kritisch alles Wesentliche geschrieben, in: "Kirche mit Vision . Gemeinde, die den Auftrag Gottes Lebt", Verlag GerthMedien, Kap. 15). Worte des Paulus in 1.Kor 14,23 und 10,32-33; 9,20-22 (in dieser Reihenfolge) sollte eine Leitlinie für die Entwicklung von in Sprache und Form zeitgemäßen Gottesdiensten und Kirchengemeinden gelten: "Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme und alle redeten in unverständlichen Sprachen, es kämen aber Unkundige oder Ungläubige hinein, würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen...Erregt keinen Anstoß, weder bei den Juden noch bei den Griechen noch bei der Gemeinde Gottes" und: (Macht's wie ich:) "Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden - obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne." 

 

2.Tim ist ein andersgeartetes Schreiben, nämlich allein an Timotheus adressiert. In ihm treten deshalb Themen der anderen beiden Briefe, also Themen, die Gemeinden betreffen, stark zurück oder fehlen zumeist ganz (vgl. etwa 2.Tim 2,2 mit Tit 1,5-16; 1.Tim 3,1-15). "Gute Taten" werden nicht missionsethisch motiviert irgendeiner Gemeinde als "für alle Menschen nützlich"  empfohlen. Der 2.Tim spricht allein Timotheus an und ruft ihn als Zeugen für Paulus nach Rom (2.Tim 1,6-8.17). Zuvor soll er dort, wo er gerade wirkt, noch letzte Unterweisungen und die Einsetzung von Lehrern vornehmen, wie es vergleichsweise in Apg 14,23; Tit 1,5-9 zum Abschluss der Erstorganisation von jungen Gemeinden beschrieben wird (vgl. 2.Tim 2,2ff). Der Ruf nach Rom ist aber das Hauptanliegen des Briefs, deshalb Hauptthema zu Briefbeginn (1,6-8), evtl. auch in der Briefmitte (2,11-13) und dann wieder zum Briefbeschluss (4,9ff). Denn: Paulus fehlen dort in Rom vor einer entscheidenden zweiten Gerichtsverhandlung unerwartet Augen- und Ohrenzeugen seiner Mission im Osten des Römerreiches (2.Tim 4,9ff). Ein einzelner Ohren- und Augenzeuge seiner Worte und Taten, Lukas (2.Tim 4,11), reichte Paulus nach biblischem Verständnis nicht. Für ihn, wie für Jesus (vgl. u. a. Mt 18,15-18), waren immer zwei oder drei Zeugen erforderlich (vgl. 2.Kor 13,1-2; 1.Tim 5,19 u. ö.). Weil also 2.Tim ein sehr persönliches Schreiben an einen Vertrauten ist, ist er auch in der Sprache viel näher mit Röm, Phil, Gal verwandt (s. u. die Arbeit u. a. von A. Kenny bei den Literaturangaben) als 1.Tim und Tit, in denen Paulus für die Mitarbeiter im Lehramt auch eine Sprache entwickelt, die neugetaufte Hellenisten in sehr jungen Gemeinden besser verstehen können (vgl. unten meinen Datierungsvorschlag für 1.Tim und Tit im selben Jahr wie 1.Kor). Gegenüber Timotheus allein entfällt solche Sprachanpassung in 2.Tim natürlich bzw. Paulus spricht in diesem Brief unangepasst als ein Griechisch sprechender Jude zu einem Griechisch sprechenden Juden Timotheus, der sowohl von einer jüdischen Mutter und Großmutter, als auch von einem griechischen Vater erzogen wurde (vgl. 2.Tim 1,3-5; 3,14-15; Apg 16,1ff). Timotheus war der Meisterschüler und beste Freund des Paulus (vgl. Phil 2,19-24; 1.Kor 4,16-17 u. ö.).Von Jude zu Jude spricht Paulus in 2.Tim fast nur vom "Messias/Christus Jesus" und nur in den Briefen an Timotheus gleich dreimal so schon im Vorwort (Präskript): 1. und 2.Tim 1,1-2 (vgl. nur hier auch alttestamentlich-jüdisch gedacht „Barmherzigkeit“ zwischen „Gnade und Frieden“ eingefügt im Eingangsgruß 1. und 2.Tim 1,2, nicht aber gegenüber dem Griechen Titus in in Tit 1,4). In anderen Briefen variiert Paulus die Reihenfolge Christus Jesus und Jesus Christus viel mehr, stellt – wie auch in Tit – häufiger zu Jesus Christus um, wenn er Judenchristen und Nichtjuden mit anspricht. Für nichtjüdische Christen war Jesus ja nicht der alttestamentlich angekündigte Messias/Christus Israels (vgl. Röm 9,1-5), sondern zuerst der Menschgewordene Jesus (und so dann auch der "Herr" aller Christen - vgl. Röm 10,1-13; Phil 2,6-11). Paulus spricht in 2.Tim auch in besonderer, alttestamentlich-jüdischer Weise nur vom "Herrn"/adonaj, nämlich ohne den Jesusnamen hinzuzufügen (Ausnahme nur 2.Tim 1,2). sonst fügt er in anderen Briefen viel häufiger den Jesusnamen dem Titel Herr hinzu ("unser Herr Jesus" oder "unser Herr Jesus Christus" u. ä.) usw.

 

Die Pastoralbriefe bzw. genauer: vor allem 1.Tim und Tit leiten zugleich zu einem Verhalten in der Öffentlichkeit an, das Kritikern, Verleumdern und Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen und so dazu beitragen sollte, dass keine behördlichen Verfolgungen seitens der Römer oder Stadtregierungen provoziert wurden. Die Gesellschaft der Antike war durchaus tolerant gegenüber verschiedensten Religionen und Kulten, nur nicht gegen Leute, die aus u. a. religiösen Gründen Unruhe verursachten. Dann wurde man recht schnell als u. a. "gottlos" angeklagt und verurteilt (vgl. gegen diese Gefahr für das junge Christentum z. B. die solche Angriffe vorbeugenden Absichtsangaben Tit 2,5.8.10; 3,1-2.8; 1.Tim 3,6-7.13; 4,6-16; 5,8.11.14; 6,1-4, die nur in 2.Tim aus o. g. Gründen fehlen, und vgl. die brenzlige Situation in Apg 19,23-40 u. ö.). Das Gegenteil von "Gottlosigkeit" (griechisch: Asebeia) war damals "Frömmigkeit" (griechisch: Eusebeia), weswegen vor allem der 1.Tim die Gemeinde massiv zu "frommem" Verhalten/"Frömmigkeit" aufruft. Die Gemeinde dieses Briefs stand durch Verleumdung (1.Tim 1,18-20; Apg 19,9-10) aktuell unter Verdacht, "Gottlosigkeit" zu leben und zu fördern (vgl., wie wichtig da ein „bürgerlich unanstößiges“ Verhalten war: 1.Tim 1,3-3,16; Apg 19,23-40). Paulus "zitiert" z. B. aber auch in 1.Kor 14,40 Worte, die ganz ähnlich an religiöse Versammlungsgebäude angebracht warenen: „Lasst aber alles ehrbar und ordentlich zugehen!“

 

Vgl. Ch. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, zweiter Teil: Auslegung der Kapitel 8 - 16, (ThHK) Berlin 1982, bes. ebd. Fußnote 399.

 

Paulus „zitiert“ hier allgemein geltende, und von den Behörden überwachte Ordnungsmaßstäbe, denn: Die Korinther waren chaotisch und zerstritten und begannen, ihren Streit in die Öffentlichkeit zu tragen (vgl. 1.Kor 6,1ff; 14,23ff). Das hätten die Behörden, wenn es Unruhen gab, die die öffentliche Ordnung bedrohten, dann als "nicht ehrbar und unordentlich" verfolgt. Und: Schon im Jahr 49 n. Chr. hatte Kaiser Claudius alle Juden aus Rom verbannt, weil sie sich öffentlich und Unruhe verursachend um einen gewissen "Chrestus" stritten, wie der römische Historiker Sueton berichtet (vgl. auch Apg 18,2!). Die neue Religion der Christus-Anhänger hatte also Rom schon damals nicht nur erreicht, sondern öffentlich wahrgenommenen Streit erzeugt. Paulus, selbst Judenchrist, schreibt seine uns im NT erhaltenen Briefe genau zu dieser Zeit, nämlich ab 50 n. Chr. und also unter dem frischen Eindruck dieses, auf ihn mit Sicherheit schwer Eindruck machenden „Rauswurfs“ der Juden sogar durch den Kaiser aufgrund von Unruhe stiftendem Verhalten auch seitens der (Juden)christen Roms. Der ganze Römerbrief biespielsweise ist ein Aufruf zum Frieden zwischen nichtjüdischen Christen, die auch nach 49 n. Chr. in Rom wohnen blieben, und den erst nach 54 n. Chr. wieder zurückkehrenden christlichen Juden in die Gemeinden dort (in Röm 163ff begrüßt er die nichtjüdischen Hausgemeinden wohl als „im Herrn“, die jüdischen Hausgemeinden aber mit „im Messias“ bzw. „in Christus“). Kaiser Nero, der Nachfolger von Claudius, hatte dessen Verbot für Juden, in Rom zu leben, wieder aufgehoben. Paulus schreibt somit den Römerbrief (ca. 56/57 n. Chr.) nur wenige Jahre nach dem, die ersten Christen sicherlich aufschreckenden, „Rauswurf“ der Juden(christen) aus Rom und angesichts erneuter Streitigkeiten um bestimmte Feiertage und Fleischverzehr u. ä. (vgl. Röm 14-15) zwischen nichtjüdischen Christen (die keine speziellen Feiertage und Speisegesetze kannten) und den neu ankommenden jüdischen Rückkehrern (die den Sabbat heiligten und bestimmte Speisen für „unrein“ erklärten). In 1.Kor, der m. E. etwa zeitgleich mit 1.Tim und Tit geschrieben wurde (s. u.), kritisiert Paulus die Korinther u. a. dafür, dass ihr chaotisches öffentliches Auftreten die Gesamtheit aller neu entstehenden christlichen Gemeinden im Römerreich rufschädigend belastet (vgl. u. a. 1.Kor 10,32-14,40). Um Öffentliche "Verspottung" und "Verlästerung" oder gar Anzeigen von Gegnern der Christen bei den Behörden zu vermeiden, entwickelt Paulus in 1.Tim und Tit eine Ethik, die Gott bei Nichtchristen Ehre statt Schande macht und die durch beeindruckendes Verhalten den Mitmenschen dient und Wege zum Glauben der Christen eröffnet.

 

Die drei Pastoralbriefe spiegeln in Ihrer Unterschiedlichkeit die Berücksichtigung der Adressaten und ihrer Situation durch den Verfasser. Sie sind deshalb in Sprache, Form und Inhalt deutlich verschieden. Nur wenige Beispiele sollen das hier zeigen:

 

Sprache

 

Absichtlich übernimmt Paulus dabei u. a. auch Titel (v. a. in 1.Tim: „Retter“, „Herr“, „Dynastes“, „König“) und Charaktereigenschaften (v. a. in Tit: neben allein dem Titel „Retter“ ansonsten „Gnade“, „Milde“, „Güte“, „Menschenliebe“, „Gerechtigkeit“) der heidnischen Götter, gottgleichen Herrscher und sonstigen menschlichen „Retter“ und benennt Gott und Jesus damit. In 1.Tim ist Gott "unser und aller Menschen Retter", nur in Tit sind sogar Gott und Jesus zusammen „unsere Retter“. Durch diesen immer doppelten Titelgebrauch (Tit 1,3.4; 2,10.13 und 3,4.6) wird nur in diesem der 13 Paulusbriefe der alttestamentliche Gottes-Titel „Herr“ ersetzt (vgl. „Herr“ in 5.Mose 6,4 als Vermeidung der Aussprache des gottesnamens JHWH). Den Titel „Herr“ musste der geborene, für auf Kreta reichlich vorkommende Juden „unreine“ Grieche und Missionar Titus so bei der Briefverlesung nicht in den Mund nehmen oder gar von Gott auf Jesus übertragen, wie es Paulus gegenüber bekannten, geschulten Gemeinden tat (vgl. u. a. Phil 2,6-11). Das hätte jüdischen Menschen höchstwahrscheinlich und evtl. sogar eben erst getauften Judenchristen auch noch jedes weitere Zuhören unmöglich gemacht (auch in Synagogen predigte Paulus nach Lukas - s. Apg 13,16ff - zuerst nicht vom "Christus" oder "Herrn" Jesus, sondern nannte ihn nur "Retter", was für Juden unanstößig war, deren AT im Richterbuch sogar Menschen "Retter" nennt, nicht nur Gott). In 2.Tim wird zwar einmalig Jesus „Retter“ genannt, so, wie Paulus ihn auch sonst in späten Gefangenschaftsbriefen nennen kann (Eph 5,23; Phil 3,20), aber ansonsten entfällt u. a. die Übernahme nichtchristlicher Titel und heidnischer Charakterisierungen für Gott und Jesus. Timotheus selbst brauchte solche Sprachbrücken nicht, um zur Bedeutung Jesu und des Gottes des AT für die Christen einen Zugang zu finden.

 

Bewusst übernimmt Paulus außerdem bes. in 1.Tim und Tit Tugend- und Lasterkataloge der griechisch-römischen Ethik und ordnet an, dass sich die Gemeinden und ihre Leiter danach richten sollen (vgl. 1.Tim 2,8-3,16; Tit 1,6-3,8; vgl. auch 1.Thess 4,1-12; Phil 4,8; Gal 5,22f). "Lebt unter Nichtchristen, wie es ihnen vertraut, nützlich und gut erscheint", ist seine Botschaft, "damit sie eure Botschaft vom rettenden Gott offenen Herzens hören und durch euer Verhalten positiv beeindruckt vernehmen können und nicht sagen müssen: Eure Taten reden so laut zu uns, dass wir eure Worte nicht hören können!" Wie nützlich ein "anständiges" und "gottesfürchtiges" Verhalten in brenzliger Situation sein konnte, zeigt u. a. Apostelgeschichte 19,23-40.

 

Form

 

Ganz auffällig ist der von allen anderen Paulusbriefen abweichende Argumentationsverlauf in Tit. In allen anderen Paulusbriefen legt Paulus häufig zuerst seine Lehre u. a. von Gott, Jesus und dem Heiligen Geist dar, bevor er, mit "nun" daran anknüpfend, aus dieser Lehre dann Verhaltensreglen für die Angeschriebenen ableitet. Ethik wird von der Theologie her kommend begründet (Beispiel: Erst nach der Lehre in Röm 1-11 folgert Paulus ab Röm 12,1 mit "nun" ethische Weisungen in Röm 12-15). Denn: Juden und Christen fragten gewöhnlich - das wurde auch von Griechen und Römern mit Verwunderung bemerkt (u. a. so Seneca) - immer wieder nach dem religiösen Grund für ihr Handeln, während die Nichtjuden keine "Theologie" hatten, sondern aus Ehrfurcht einfach das so wie immer taten, was schon ihre Vorfahren genauso machten. Darum wird Paulus in Tit den soeben erst konvertierten Nichtjuden wie einer der ihren (vgl. 1.Kor 9,20ff) und strukturiert seine Argumentation anders: Er beginnt jeweils so, wie es Nichtjuden damals kannten, nämlich mit ethischen Forderungen und Verhaltensregeln üblicher Tugend- und Lasterkatalogen, geht also erste Schritte mit ihnen ganz in ihrer "Welt", um sodann erst ihr vertrautes Denken und Handeln nach in eine neue, nämlich fundiert theologische Begründung des Handelns u. a. in der Gnade Gottes zu überführen. Im Tit beginnt Paulus im Briefhauptteil nach dem Vorwort Tit 1,1-4 also drei Textblöcke immer mit Ethik und überführt diese erst nachträglich mit "denn" oder "nämlich" in seine Theologie als Begründung der Forderungen:

 

1. Ethik für Gemeindeleiter in Tit 1,5-9, nachträglich begründet mit Tit 1,10-16;

 

2. Ethik für die Gesamtgemeinde im öffentlich beobachteten und besuchten Haus der Leiter in Tit 2,1-10, nachträglich begründet in Tit 2,11-15;

 

3. Verhaltensregeln für alle Christen in der Stadtgesellschaft/Öffentlichkeit in Tit 3,1-2, nachträglich begründet in Tit 3,3-11.

 

(Im Schlusswort bündelt Paulus Wesentliches nochmals, u. a. das Thema Gastfreundschaft als Missionsbasis, das gleich in Tit 1,8 als erstes thematisiert wurde).

 

Paulus wird also selbst in der Briefgestalt in Tit  "den noch ungelehrten Nichtjuden nach der Taufe ein Nichtjude". Fortgeschrittene im christlichen Glauben hatten das nicht mehr nötig (vgl. z. B. anders 1.Tim 1, dann ab 1.Tim 2,1.8 mit "nun" Ethikforderungen und 2.Tim 1 und dann ab 2,1 Forderungen mit "nun" eingeleitet, in beiden Briefen folgen also immer erst nach einer komprimierten, dem Thema des Briefs angepassten Darlegung des Evangeliums von Jesus Christus auch Verhaltensanweisungen).

 

Inhalt

 

Tit ist deutlich erkennbar eine Lehrhilfestellung für den Mitarbeiter Titus zur Organisation und Unterweisung Neugetaufter. Ihnen muss Titus noch erklären, was ein Apostel ist und wozu dieser von Gott eingesetzt wurde (Tit 1,1-4; anders 1. und 2.Tim 1,1-2), eine Gemeindeleitung muss erst noch eingesetzt werden (1,5; anders 1.Tim 3-5, wo nur einzelne Bewerber auf ein Leitungsamt nachgewählt werden sollen), ausführlich muss die Ethik Tit 1,6-2,10 nachfolgend in der paulinischen Gnaden- und Rechtfertigungslehre begründet werden, soweit dies für Nichtkenner des AT möglich/nötig ist. Auch in Tit 1,1-4 fehlen Hinweise auf das AT, wie ganz anders in Röm 1,1-7, wo Paulus sein Apostelamt ebenfalls Unbekannten, aber das AT kennenden Adressaten in Rom vorstellt. Sie sind mit der allgemeingültigen christlichen Lehre bestens vertraut (Röm 6,17; 16,17), die immer auch vom AT her entworfen wurde (vgl. u. a. 1.Kor 10-15; Röm 15,,1-18, bes. Röm 15,4). Im Gegensatz zu 1.Tim 1,7ff; 2.Tim 3,15f u. ö. kann Paulus gegenüber nichtjüdischen Neugetauften auf Kreta das AT noch nicht als Gottes Wort und Ethikmaßstab empfehlen oder als bekannt voraussetzen und zitieren. Dass ein Mensch nicht aus eigener Kraft mit Gott und nach seinen Normen leben kann, sondern allein aus der Gnade Gottes und aus der Kraft des Geistes Gottes, muss nur in Tit in 2,10-3,8 ausdrücklich und grundsätzlich noch dargelegt werden (so, wie Paulus auch sonst seine "Gnaden/Rechtfertigungslehre" in Briefen an Gemeinden nur gegenüber in der paulinischen Lehre noch Unkundigen, also in Röm, oder gegenüber vom Glauben abgefallenen Christen entfalten muss, also in Gal). In 1. und 2.Tim und allen anderen Paulusbriefen (außer eben Röm, Gal) kann Paulus seine Gnadenlehre als bekannt und unumstritten voraussetzen. Nach Lukas begann Paulus sogar schon in Missionspredigten vor AT-Kennern, diese Lehre vorsichtig darzulegen (vgl. Apg 13,16-41, also die Lehre, dass der Mensch sich Gottes Liebe und Rettung nicht drch das Halten der Gebote des Mose erkaufen muss oder kann, sondern dass Gott rettet, indem er uns den Glauben schenkt (vgl. die Worte des Paulus in Apg 13,38-39: "So sei euch nun kundgetan, liebe Brüder, dass euch durch ihn Vergebung der Sünden verkündigt wird; und in all dem, worin ihr durch das Gesetz des Mose nicht gerecht werden konntet, ist der gerecht gemacht, der an ihn glaubt ").

Nicht wir gehen den ersten Schritt auf Gott zu, sondern er kommt zuvor auf uns zu (vgl. Röm 5,6-10, aber auch Mt 28,16-18: Jesus kommt auf die zweifelnden Jünger zu). 

 

 

Ein Leitbegriff des Tit bes. in Tit 1-2 ist "Besonnenheit" - frei übersetzt: es geht um eine Rollenfindung aller zukünftig als Hausgemeindeglieder organisierter Christen unter öffentlicher Beobachtung bzw. in ihren Häusern und versammlungen darin auch besucht von Nichtchristen, die man einlud (vgl. 1,8; 2,5.8.10). Jeweils andere Verhaltensregeln galten in der Antike für die Gemeindeleiter, die auch als Vorbilder für alle [Ehe]männer instruiert werden: Tit 1,6-9, für  Senioren, Seniorinnen: 2,2-3, junge Männer, die  nicht nur in 2,6ff, sondern bes. schon in 1,6 als die allein öffentlich auftretenden "Kinder" der Gemeindeleiter angsprochen sind. Sie sollen dem Glauben ihres Vaters, der in der Antike die Hauptverantwortung für die Erziehung hatte, Ehre machen.  Wieder andere Verhaltensregeln gab es für junge [Ehe]frauen, da Mädchen im Haus leben mussten und gar nicht öffentlich und also für ihre christlichen Väter dort auch nicht peinlich auftreten konnten. Junge Frauen aber konnten den Glauben ihrer Ehemänner bei nichtchristlichen Hausgemeindebesuchern in Misskredit bringen, wenn sie sich nicht nach deren Vorstellungen verhielten: 2,4-5. Titus wird in Tit 2,6-8 als Vorbild für alle angesprochen und schließlich sollen Sklaven nach 2, 9-10 die christliche Lehre durch ein Verhalten "schmücken", dass es nichtchristlichen Sklavenhaltern nicht unmöglich machte, ihnen bzw. ihren "Standesgenossen", den inzwischen christliche Hausgemeindeleiter gewordenen Hausherren (1,5ff), in Hausversammlungen zuzuhören. Es war guter, allegemeiner Brauch, dass Hausherren Freunde und Geschäftspartner zu Abendessen und Gespräch einluden  (vgl. wie auch die Christen so lebten: Apg 2,46). Es ging also bei der Aufforderung zur "Besonnenheit" um missionsstrategische und darum standesgemäße  Rollenfindung  bzw. sogar Rollenbeibehaltung nach den allegmeinen Vorstellungen der Antiken Gesellschaft, um keinen "Anstoß" zu erregen (vgl. 1.Kor 7,17.20.24, wo Paulus beginnt, die Korinther zu dieser Missionsstrategie des unanstößigen Verbleibens in dem Stand, in dem man Christ wurde, zurückzuführen, eine Missionsstrategie, die er dann in 1.Kor 9,19-22; 10,32-14,23ff ausführlich begründet). Zugunsten der Rettung von Nichtchristen musste das Ausleben der neunen, christlichen Freiheit von alten Rollenzwängen (vgl. Gal 3,28) oft weitestgehend unterbleiben. Das ist heute nicht anders, wenn europäische Christen unter Menschen anderer Kulturen leben und mit ihnen über ihren Glauben sprechen wollen. Rücksichtnahme auf das Empfinden anderer, leider in unserer Gesellschaft oft wenig vorhanden, ist dann das oberste Gebot!  [Peinlich war es, mit anzusehen, wie vor Jahren einer unserer Bundeskanzler einen Tempel einer anderen Kultur mit Straßenschuhen betrat, einer Kultur, in der man soetwas nie tun würde.] Paulus stellt sich als Vorbild für den Verzicht auf Freiheiten so vor Augen: " Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne.